Heimliche Erinnerungen : in Deutschland 1904 bis 1933 ; mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Hrsg. von Alan Deutsche ERSTAUSGABE.
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9783886807642 - POSENER, Julius: Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hrsg. von Alan
POSENER, Julius

Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hrsg. von Alan (2004)

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ISBN: 9783886807642 bzw. 3886807649, in Deutsch, 493 Seiten, Siedler, gebraucht, guter Zustand, mit Einband.

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ORIGINAL VERPACKT - JULIUS POSENER - HEIMLICHE ERINNERUNGEN. IN DEUTSCHLAND 1904 BIS 1933 - Mit einem Anhang: In Germany again (1948) - Aus dem Englischen von Ruth Keen - Hrsg. von Alan Posener - SIEDLER VERLAG - 2004 - 493 SEITEN m. s/w-Abb. - FORMAT ca. 22 x 14,5 cm - ISBN 3886807649 bzw. 9783886807642 - GEBUNDENES EXEMPLAR MIT SCHUTZUMSCHLAG WIE ABGEBILDET - DAS EXEMPLAR IST UNBENUTZT, UNGELESEN UND NOCH ORIGINAL VERPACKT (IN FOLIE EINGESCHWEISST) - FOLIE GERINGFÜGIG OFFEN - SORGFÄLTIGER VERSAND - LIEFERZEIT/ BRD ca. 7 TAGE nach Zahlungseingang (manchmal schneller) - BITTE BEACHTEN: KEIN VERSAND AN PACKSTATIONEN - ANFRAGEN WERDEN GERN BEANTWORTET! (a/b - j9) - Heimliche Erinnerungen an Deutschland Das Umschlagbild zeigt einen Vater Anfang des vergangenen Jahrhunderts mit seinen drei Söhnen: Karl, Ludwig und - als jüngstem - Julius Posener. Das Bild strahlt die Sicherheit und Zuversicht einer grossbürgerlichen jüdischen Familie aus. Eine trügerische Sicherheit. Der Nationalsozialismus vertrieb die drei an unterschiedliche Enden der Welt: Karl, den Ältesten, ins Exil nach Australien, wo er schon 1946 starb; Ludwig nach Palästina; und Julius über England nach Malaysia. - In Kuala Lumpur, wo er Architektur lehrte, schrieb Julius Posener in der ihm noch fremden englischen Sprache seine Erinnerungen. Sie sind schärfer, direkter - und bitterer - als die Erinnerungen, die er im Alter in seiner Muttersprache verfasste und 1990 unter dem Titel »Fast so alt wie das Jahrhundert« veröffentlichte. - Es scheint, als würde das Brennglas des Exils Details vergrössern - die kindliche Schutzlosigkeit, die erwachende Sexualität, den eigenen Antisemitismus und die drohende Ausgrenzung - und so das eigene Leben wie die Brüche der Zeit umso plastischer hervortreten lassen. Das Buch ist auch - heimlich niedergeschrieben in der kolonialen Gesellschaft, die weder von Deutschen noch von Juden etwas wissen wollte - eine verstohlene Liebeserklärung an die verlorene Heimat. - "Poseners Erzählung von den geistigen Kämpfen in der Familie, der Schule und in der Jugendbewegung, seine freimütige Analyse der zerissenen Seelenlandschaft im bürgerlichen Judentum gehört zum Erhellendsten, was über die Inkubationszeit der deutschen Katastrophe von 1933 geschrieben worden ist. Seine tief ins Intime, auch Erotische greifende Analyse des Generationsproblems erinnert an ähnliche Passagen in Franz Kafkas Lebenszeugnissen." - Julius Posener (1904-1996) studierte Architektur an der Technischen Hochschule Berlin. 1935 Emigration nach Palästina, 1941 freiwillige Meldung zur britischen Armee, wurde 1946 britischer Staatsbürger. Nach Jahren der Lehrtätigkeit in London und Kuala Lumpur 1961 Berufung an den Lehrstuhl für Baugeschichte der Hochschule der Künste in Berlin. Fachveröffentlichungen. - Leseprobe: Ankunft, Abkunft Meine frühesten Erinnerungen sind traurig und beängstigend. Nach den ersten, flüchtigen und in meinem Gedächtnis nur schemenhaft erhaltenen Momenten bewusster Wahrnehmung, die nur Bewegung enthüllen - ich werde in schwindelerregende Höhen gehoben, im Gleitflug eine Treppe hinuntergetragen, zwischen die Kissen eines übergrossen Kinderwagens gestopft oder auf einen turmhohen Kinderstuhl gesetzt -, ist meine früheste, halbwegs deutliche Erinnerung diese: Jemand hält mich im Arm, ich glaube, es ist mein Vater, doch dann werde ich in andere Arme weitergereicht. Die Szene spielt sich im Esszimmer ab, und auf dem Tisch steht eine längliche Schale mit Operationsbesteck. Ich werde getröstet: Man hat mir die Mandeln herausgenommen. Es gibt keine Erinnerung an Schmerzen, nur an etwas Unverstandenes und Trauriges. Die nächste Erinnerung ist deutlicher. Ich stehe in einem Zimmer mit hoher Decke und einem Fussboden aus breiten, unregelmässigen Dielen, und dieser ist direkt unter mir besudelt. Mein Hinterteil fühlt sich klebrig an, nach warmem, weichem Kot. Ich weine. Jemand, ich glaube, es ist das Mädchen - aber meine Mutter muss kurz darauf dazugekommen sein -, eilt zu mir und sagt, ich müsse mich nicht schämen, es sei nicht meine Schuld. Die dritte Erinnerung stammt von meinem vierten Geburtstag. Einige Zeit zuvor hatten meine beiden Brüder, die drei und sechs Jahre älter waren als ich, heimlich an einer Überraschung für mich gearbeitet. An meinem grossen Tag warte ich im dunklen Korridor vor dem Geburtstagszimmer, wo ich durch einen Spalt in der Tür das Flackern des Lebenslichts sehen kann. Bald darauf werde ich in den Raum geführt und schaue erwartungsvoll zum Gabentisch hinauf. Mein ältester Bruder will mir das Modell eines Zeppelins zeigen, das er für mich gebastelt hat, aber er gerät damit an die Kerzenflamme, und das Ding fängt sofort Feuer. Schreiend renne ich aus dem Zimmer und in die Küche, wo sich alles um mich schart, um mich zu trösten. Trotz meines unvergessenen Entsetzens taten mir meine Brüder, deren Werk und die Freude, die sie mir machen wollten, zerstört worden waren, leid. Der Hangar aus Pappe, den sie für den Zeppelin gebaut hatten, blieb für viele Jahre Bestandteil unseres Spielzeugs, aber ich konnte ihn nie ansehen oder berühren, ohne einen leichten, ehrfürchtigen Schauer angesichts der damit verbundenen Tragödie zu verspüren. Jahre später, als ich über die Katastrophe von Graf Zeppelins Luftschiff in Echterdingen las, verknüpfte ich das Ereignis eng mit dem, was am Gabentisch meines vierten Geburtstags geschehen war. Danach stellen sich friedlichere Erinnerungen ein: Sie handeln von Spaziergängen an der Hand eines Dienstmädchens, zusammen mit meinem Bruder Ludwig, Karl war zu alt dafür. Wir gehen durch die Strassen der Gartenvorstadt von Berlin, in der wir lebten. Ich sehe - und rieche - noch ganz deutlich braunes Laub, das ich durch die Lücken am Fusse der gusseisernen Zäune erkennen konnte. Ich weiss nicht, warum mir gerade diese Erinnerung so viel bedeutet, aber ich gebe mich ihr noch heute gerne hin. Wir wohnten damals in der Holbeinstrasse in Lichterfelde in einem düsteren und weitläufigen Haus mit riesigen Kachelöfen. In der Abenddämmerung, besonders im Winter, wurde das Gaslicht oder eine Petroleumlampe angezündet, und ich weiss noch, dass ich mich vor dem Geruch des ausströmenden Petroleums in dem Augenblick, bevor die Flamme hell wurde, und auch vor dem gelegentlichen Zischen des Gases fürchtete. Das Haus stand in einem grossen moderigen Garten mit einem Springbrunnen davor. Einmal trank ich Wasser aus diesem Brunnen, indem ich es mit meiner Spielzeugtrompete ansaugte, und wurde streng gerügt, als ich später Bauchschmerzen bekam und meine Sünde beichtete. Immerhin gab man mir daraufhin ein alkoholisches Tonikum, das mir sehr gut schmeckte. Richtigen Ärger bekam ich, als Willi, der Sohn des Gärtners, ein seltsames Spiel mit mir spielte. Ich musste mich auf einen Gartentisch legen und ein "krankes Häschen" sein, während er der Doktor war und meinen Penis hielt, um mich zu heilen. Als wir ertappt wurden, endete diese "Freundschaft" mit dem "schmutzigen Jungen". Mir war damals vollkommen bewusst, dass man so etwas nicht tut, und aus diesem Grund - und anderen Gründen - war das Gefühl, das ich während unserer Treffen hatte, das einer süssen und schamvollen Hingabe. Kurz darauf machte ich eine neue Entdeckung, als ich im Garten an einem Seil hinaufkletterte, aber diesmal fühlte ich mich vollkommen unschuldig und nannte die Erfahrung, die ich oft wiederholte, "meine Lieblingsübung". In unserem neuen Haus brachte ich sie sogar der Gärtnerstochter bei, während ich sie meinem älteren Bruder irgendwie nicht zeigen wollte. Ich entwickelte bereits sehr früh ein Ichbewusstsein und liebte die Geschichten über mich, die mir meine Eltern aus den Jahren erzählten, an die ich mich nicht erinnerte, zum Beispiel, wie ich innerhalb von drei Tagen mein Lispeln überwunden hatte, ebenso wie meinen "Hackbiss", bei dem ich meine Zähne aufeinandersetzte, wenn ich den Mund schloss, anstatt den Unterkiefer unter den Oberkiefer rutschen zu lassen. Ich entsinne mich tatsächlich, wie ich mit unermüdlicher Energie die korrekte Haltung übte und dafür oft gelobt wurde. Meine erste Bekanntschaft mit meinem Spiegelbild war schmerzlich; doch es gelang mir, mich davon zu überzeugen, dass ich ein aussergewöhnliches Gesicht haben musste, denn die alten Tanten oder anderen alten Damen, die uns besuchten oder die wir auf der Strasse trafen, unterliessen es nie, meinen ernsten Gesichtsausdruck zu erwähnen, und eine sagte einmal: "Da kommt ja der junge Moltke." Wie stolz mich diese Bemerkung machte, kann man daran erkennen, dass ich mich noch heute daran erinnere. Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich zu Höherem berufen war. Dennoch sind meine Erinnerungen an diese frühesten Kindheitsjahre nicht angenehm. Wenn ich ernst aussah, dann lag es nicht daran, dass ich tiefen Gedanken nachhing, wie manche Leute offenbar glaubten. In Wirklichkeit war ich meistens verträumt, voller Furcht, traurig und gelangweilt, und das Haus, in dem wir lebten, mit seinen vielen dunklen Ecken, den hohen Fenstern, den nackten Fussböden und den verschnörkelten Möbeln von erdrückender Grösse habe ich nie gemocht. Insbesondere die Standuhr versetzte mich in panische Angst. Sie hatte gedrehte Säulen, die das Uhrwerk stützten, und sehr schwere Messinggewichte. Bevor sie mit einem besonders lauten und harten Ton die volle Stunde anschlug, schien sie erst einmal Luft zu holen, wobei sie ein Geräusch machte, das wie "Tiffteliff" klang. Das hörte sich dann so an: Tiffteliff, gong, gong, gong, gong. Ich nannte sie, warum weiss ich nicht, die "Ofenuhr", und diese Ofenuhr verwandelte sich in die mörderische Lokomotive oder (mit den gedrehten Säulen als Stosszähnen) in den wütenden Elefanten meiner Alpträume, in denen sie mich langsam aber mit tödlicher Sicherheit in eine geheimnisvolle Finsternis hinein verfolgten. Ich hielt mich nicht einmal bei Tag gern in der Nähe der "Ofenuhr" auf und war froh, dass sich mein Platz am Esstisch auf der gegenüberliegenden Seite befand, wo ich sie im Auge behalten konnte und ihre Gegenwart nicht im Rücken spüren musste. Eine grosse Veränderung trat in meinem sechsten Lebensjahr ein, 1910, als meine Eltern nicht weit von der Holbeinstrasse inmitten herrlicher Kastanien ein neues Haus auf einem grossen Eckgrundstück bauen liessen. Kastanienbäume bedeuten für mich noch heute das neue, das geliebte Heim (das erste Haus war trostlos gewesen), die erste Liebe, erste Musik, meine ersten eigenen Gedichte. Ich habe dieselben Bäume fünfzehn Jahre lang vor Augen gehabt, meine gesamte bewusste Kindheit und Jugend hindurch. Anfangs war das neue Grundstück in der Karlstrasse nichts als ein herrlicher Spielplatz, wo wir auf Leitern klettern, über Schubkarren stolpern und uns im hohen Gras verkriechen konnten. Der Bauplatz war sonnig und verwildert, ein Jungenparadies. Natürlich begannen wir beide, Ludwig und ich, sobald wir eingezogen waren, nach der "Holbeinstrasse" zu quengeln. "Es war so gemütlich da", jammerten wir. Trotzdem: Im neuen Haus gab es elektrisches, gelbliches Licht, was nun wirklich anheimelnder war als das kalte weisse Gaslicht im alten Heim. Es war zentralgeheizt, und in jedem Zimmer standen Heizkörper, die noch nach frischer Farbe rochen. Die in den Empfangsräumen hatten eine Holzverkleidung, die oben mit einem Bronzegitter abgedeckt war, auf dem man im Winter sitzen und sich den Hintern wärmen konnte. Wir hatten Einbauschränke in den Schlafzimmern, und die schwerfälligen Schränke aus dem alten Haus hatte mein Vater alle blau gestrichen und wie die blauen und cremefarbenen Türen im Haus mit Blumen und Vögeln im "Bauernstil" verziert. In dem riesigen Dachgeschoss befand sich das Atelier meines Vaters, und darüber war sogar noch Platz für einen hohen Dachboden. Dieses Dachgeschoss war aussen in einem dunkelbraunen Farbton rauhverputzt, weshalb unser Haus von den Jungen in unserer Strasse "Schokoladenvilla" genannt wurde. Es war ein modernes Haus, genauer gesagt, ein Haus im "englischen Landhausstil" - geräumig, sonnig und bequem -, und stand in einem formstreng angelegten Garten mit weissen Gartenbänken, breiten Blumenbeeten und einer Vogeltränke. Auf den Rasenflächen zu beiden Seiten des Gartenpfades in der Mitte wuchsen Apfelbäume, Quitten-, Birn- und Kirschbäume. Am Zaun zum Nachbargrundstück verlief ein langes Beet, in dem Erdbeeren und Stachelbeeren angepflanzt waren, während ein Spalier aus Pfirsich- und Aprikosenbäumen den Zaun verdeckte. Die Obstbäume waren bei unserem Einzug gesetzt worden, und wir konnten zusehen, wie sie zu kräftigen, prächtigen Bäumen heranwuchsen, die mit jedem Jahr eine bessere Ernte erbrachten. Hinter dem Haus und entlang der langen Strassenfront standen blühende Büsche, ideal zum Versteckspielen. Es dauerte nicht einmal einen Monat, bis wir unseren täglichen sehnsüchtigen Spaziergang zur Holbeinstrasse aufgegeben und uns in unserem neuen Heim glücklich eingelebt hatten. Unser Kinderzimmer, ein riesengrosser Raum mit einem Bodenbelag aus Linoleum, hatte eine Loggia, eine Ecke, in der wir Schularbeiten machen konnten, und einen Kaufmannsladen. Ludwig und ich schliefen noch in weissgestrichenen Kinderbetten aus Eisen. Ausserdem war unser Zimmer mit einem ebenfalls eisernen Wäscheständer und zwei grossen blauen Kleiderschränken möbliert. In der Mitte stand ein Tisch mit Stühlen, es blieb aber noch genügend Platz auf dem Fussboden, damit wir mit Zinnsoldaten oder unserer Eisenbahn spielen konnten. Zwei Personen beeindruckten mich sehr stark während der Bauzeit und der ersten Wochen im neuen Haus. In erster Linie der Architekt. Fritz Crzellitzer war ein kleiner Mann mit dunklem Haar, einer kurzen, leicht gebogenen Nase und lustigen, braunen Augen. Wenn er auf der Baustelle erschien, seine Entwürfe ausrollte und dem Polier Anweisungen erteilte, sah ich einen Meister in Aktion. Dies, fand ich, war ein Beruf für einen Mann, der alles überschaute, ein sehr männlicher Beruf. Crzellitzer spielte Klavier, und er spielte wie ein Architekt: kräftig, strukturiert, gesetzt. Er malte auch, und auch dies tat er wie ein Architekt. Für mich wurde er zu "dem Architekten" schlechthin, und dieser Beruf, verkörpert in seiner Person und seinem Werk, unserem neuen Haus, hat mir seitdem stets Hochachtung eingeflösst. Crzellitzer gehörte zu den treibenden Kräften jener grossen Befreiungsbewegung, der modernen Architektur, von deren Ergebnissen ich mich plötzlich umgeben sah und die mich die muffigen, düsteren Häuser wie das, in dem wir vorher gewohnt hatten, verachten liess. Die andere Person, die sich ebenso aktiv an dem grossen Unternehmen beteiligt hatte, war mein Vater. Er hatte dem Architekten die ganze Zeit über die Schulter geschaut und sogar das eine oder andere Detail im Entwurf verändert und, wie er behauptete, verbessert. All die aufgemalten Vögel und Blumen an den Türen waren, wie erwähnt, sein Werk, auch der kleine Vogel, der gerade einen Klecks fallen liess und auf die Gästetoilette verwies. Er betrachtete das Haus als seine eigene Schöpfung und war mit dem Resultat äusserst zufrieden. Mein Vater Moritz Posener war ein moderner Maler. Seine Lebensgeschichte - er erzählte uns furchtbar gern von seinen frühen Jahren - scheint mir exemplarisch zu sein für die Abkehr von der Dunkelheit des vorangegangenen Jahrhunderts und die Hinwendung zum strahlenden Licht des zwanzigsten. Vater hatte keine leichte Kindheit gehabt. Mein Grossvater Josef muss ein aussergewöhnlicher Mann gewesen sein. Er stammte aus Wirsitz in der Provinz Posen, wo er eine Schneiderlehre absolviert hatte, bevor er sich zu Fuss oder mit dem Pferdewagen, wenn einer anhielt und ihn mitnahm, nach Berlin aufmachte, um dort als Schneidergeselle zu arbeiten. Von Berlin zog er zunächst weiter nach Paris und einige Jahre später nach London, wo die besten Herrenschneider sassen, bei denen man damals lernen konnte. Dort wurde er Kompagnon eines anderen jüdischen Schneiders, der dann nach New York auswanderte und ihn aufforderte, ihm zu folgen. Als mein Grossvater dort auf einem Segelschiff ankam, erfuhr er, dass sein Partner nach Rio de Janeiro weitergereist war und ihn nun dort treffen wollte. Wieder schiffte er sich ein. Als sein Schoner im Golf von Mexiko in eine wochenlange Flaute geriet, wäre er vor Hunger und Durst fast gestorben, schliesslich gelang es ihm aber, Rio zu erreichen. Die beiden gaben die Schneiderei bald auf und fingen an, mit Edelsteinen zu handeln, die sie auf langen Reisen durch den Dschungel mit Maultieren zu den Haziendas beförderten. Mein Grossvater machte ein kleines Vermögen und beschloss, in seine deutsche Heimat zurückzukehren. Er war auf dem Weg durch die dunklen engen Gassen, die zum Hafen hinunterführten, als er von Räubern überfallen wurde, die ihm den grössten Teil seiner Habe abnahmen. Danach musste er weitere fünf Jahre durchs Land ziehen und Edelsteine verkaufen, bis er sich wieder saniert hatte. Diesmal gelangte er ohne Zwischenfall nach Europa. In Den Haag heiratete er Cato van Meerloo und liess sich mit ihr in Berlin nieder, ein Mann mit bescheidenen Mitteln, die im wesentlichen aus den Einnahmen eines in Rio zurückgelassenen Juwelierladens stammten. Mein Grossvater starb Jahre vor meiner Geburt, aber ich habe sein brasilianisches Tagebuch gelesen und eine Reihe von Porträts gesehen, die mein Vater von ihm gemalt hat, speziell eines im Stil eines Meisters der Holbein-Schule mit dem Titel "Anno Aetatis Suae ..." Es zeigt das Gesicht eines Juden, der hart gearbeitet hat, eines Selfmademans, der aber selbst in seinen jungen Jahren, als er sich noch nach oben kämpfte, eine natürliche Würde besessen haben muss. Seine hellblauen Augen waren das jüdischste an seinem Gesicht. Sie hatten Leid gesehen und erfahren, sie drückten Verständnis und Mitgefühl aus, sie hatten alles überwunden. Meine Grossmutter ist sogar noch früher gestorben. Auch sie nimmt für mich nur durch die Geschichten meines Vaters Gestalt an und in einem Bild, das er einige Tage nach ihrem Tod gemalt hat: Man sieht sie an einem Vorfrühlingstag an einem geöffneten Fenster im Sterben liegen. Der Hintergrund mit dem Rasen und den kahlen Bäumen ist dunkel, und davor zeichnet sich im Halbprofil das blass schimmernde Gesicht der Sterbenden ab. Ihre Augen sind unter den schweren, faltigen Lidern fast geschlossen; ihr Profil ist rein und klar. Der alte José Posener war ein gütiger, liebevoller, strenger Vater, der mit seinen eigensinnigen, begabten, aber mit ihren überspannten Erwartungen ans Leben überforderten Kindern sicherlich seine liebe Not hatte. Das Phänomen ist möglicherweise typisch für eine jüdische Familie jener Zeit. Der alte Herr hatte die Grundlage gelegt, seine Kinder auf die höhere Schule geschickt, doch er selbst war kein gebildeter Mann. Die Kinder, die ihr Leben auf so viel höherem Niveau begannen, waren ehrgeizig. Julio, der jüngere Bruder meines Vaters, spielte virtuos, doch vollkommen gefühllos Klavier und konnte auch ziemlich gut zeichnen, musste aber nach Brasilien gehen, um sich um das Juwelengeschäft zu kümmern. Louis, der Lieblingsbruder meines Vaters, starb als junger Mann an Tuberkulose. Der jüngste Sohn George versuchte sich im Malen und in der Bildhauerei und beschloss dann, Schauspieler zu werden, wobei er sich als einmalig erfolglos erwies. Niedergeschlagen und eifersüchtig auf das einzig wahre Talent in der Familie, meinen Vater Moritz, musste er sich schliesslich mit dem drögen Beruf eines Zahnarztes begnügen. Mathilde, das einzige Mädchen unter den Geschwistern, heiratete zu früh; die Ehe wurde wieder geschieden. Und als mein Vater am Ende auch noch reich einheiratete, bekam der Groll, den seine Brüder gegen den einen hegten, der es im Leben zu etwas gebracht hatte, neue Nahrung. 2004, Hardcover/gebunden, wie neu, ca. 22 x 14,5 cm, 800g, 493 Seiten, Internationaler Versand, Banküberweisung.
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9783886807642 - POSENER, Julius: Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hrsg. von Alan
POSENER, Julius

Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hrsg. von Alan (2004)

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Der Nationalsozialismus vertrieb die drei an unterschiedliche Enden der Welt: Karl, den Ältesten, ins Exil nach Australien, wo er schon 1946 starb; Ludwig nach Palästina; und Julius über England nach Malaysia. - In Kuala Lumpur, wo er Architektur lehrte, schrieb Julius Posener in der ihm noch fremden englischen Sprache seine Erinnerungen. Sie sind schärfer, direkter - und bitterer - als die Erinnerungen, die er im Alter in seiner Muttersprache verfasste und 1990 unter dem Titel »Fast so alt wie das Jahrhundert« veröffentlichte. - Es scheint, als würde das Brennglas des Exils Details vergrössern - die kindliche Schutzlosigkeit, die erwachende Sexualität, den eigenen Antisemitismus und die drohende Ausgrenzung - und so das eigene Leben wie die Brüche der Zeit umso plastischer hervortreten lassen. Das Buch ist auch - heimlich niedergeschrieben in der kolonialen Gesellschaft, die weder von Deutschen noch von Juden etwas wissen wollte - eine verstohlene Liebeserklärung an die verlorene Heimat. - "Poseners Erzählung von den geistigen Kämpfen in der Familie, der Schule und in der Jugendbewegung, seine freimütige Analyse der zerissenen Seelenlandschaft im bürgerlichen Judentum gehört zum Erhellendsten, was über die Inkubationszeit der deutschen Katastrophe von 1933 geschrieben worden ist. Seine tief ins Intime, auch Erotische greifende Analyse des Generationsproblems erinnert an ähnliche Passagen in Franz Kafkas Lebenszeugnissen." - Julius Posener (1904-1996) studierte Architektur an der Technischen Hochschule Berlin. 1935 Emigration nach Palästina, 1941 freiwillige Meldung zur britischen Armee, wurde 1946 britischer Staatsbürger. Nach Jahren der Lehrtätigkeit in London und Kuala Lumpur 1961 Berufung an den Lehrstuhl für Baugeschichte der Hochschule der Künste in Berlin. Fachveröffentlichungen. - Leseprobe: Ankunft, Abkunft Meine frühesten Erinnerungen sind traurig und beängstigend. Nach den ersten, flüchtigen und in meinem Gedächtnis nur schemenhaft erhaltenen Momenten bewusster Wahrnehmung, die nur Bewegung enthüllen - ich werde in schwindelerregende Höhen gehoben, im Gleitflug eine Treppe hinuntergetragen, zwischen die Kissen eines übergrossen Kinderwagens gestopft oder auf einen turmhohen Kinderstuhl gesetzt -, ist meine früheste, halbwegs deutliche Erinnerung diese: Jemand hält mich im Arm, ich glaube, es ist mein Vater, doch dann werde ich in andere Arme weitergereicht. Die Szene spielt sich im Esszimmer ab, und auf dem Tisch steht eine längliche Schale mit Operationsbesteck. Ich werde getröstet: Man hat mir die Mandeln herausgenommen. Es gibt keine Erinnerung an Schmerzen, nur an etwas Unverstandenes und Trauriges. Die nächste Erinnerung ist deutlicher. Ich stehe in einem Zimmer mit hoher Decke und einem Fussboden aus breiten, unregelmässigen Dielen, und dieser ist direkt unter mir besudelt. Mein Hinterteil fühlt sich klebrig an, nach warmem, weichem Kot. Ich weine. Jemand, ich glaube, es ist das Mädchen - aber meine Mutter muss kurz darauf dazugekommen sein -, eilt zu mir und sagt, ich müsse mich nicht schämen, es sei nicht meine Schuld. Die dritte Erinnerung stammt von meinem vierten Geburtstag. Einige Zeit zuvor hatten meine beiden Brüder, die drei und sechs Jahre älter waren als ich, heimlich an einer Überraschung für mich gearbeitet. An meinem grossen Tag warte ich im dunklen Korridor vor dem Geburtstagszimmer, wo ich durch einen Spalt in der Tür das Flackern des Lebenslichts sehen kann. Bald darauf werde ich in den Raum geführt und schaue erwartungsvoll zum Gabentisch hinauf. Mein ältester Bruder will mir das Modell eines Zeppelins zeigen, das er für mich gebastelt hat, aber er gerät damit an die Kerzenflamme, und das Ding fängt sofort Feuer. Schreiend renne ich aus dem Zimmer und in die Küche, wo sich alles um mich schart, um mich zu trösten. Trotz meines unvergessenen Entsetzens taten mir meine Brüder, deren Werk und die Freude, die sie mir machen wollten, zerstört worden waren, leid. Der Hangar aus Pappe, den sie für den Zeppelin gebaut hatten, blieb für viele Jahre Bestandteil unseres Spielzeugs, aber ich konnte ihn nie ansehen oder berühren, ohne einen leichten, ehrfürchtigen Schauer angesichts der damit verbundenen Tragödie zu verspüren. Jahre später, als ich über die Katastrophe von Graf Zeppelins Luftschiff in Echterdingen las, verknüpfte ich das Ereignis eng mit dem, was am Gabentisch meines vierten Geburtstags geschehen war. Danach stellen sich friedlichere Erinnerungen ein: Sie handeln von Spaziergängen an der Hand eines Dienstmädchens, zusammen mit meinem Bruder Ludwig, Karl war zu alt dafür. Wir gehen durch die Strassen der Gartenvorstadt von Berlin, in der wir lebten. Ich sehe - und rieche - noch ganz deutlich braunes Laub, das ich durch die Lücken am Fusse der gusseisernen Zäune erkennen konnte. Ich weiss nicht, warum mir gerade diese Erinnerung so viel bedeutet, aber ich gebe mich ihr noch heute gerne hin. Wir wohnten damals in der Holbeinstrasse in Lichterfelde in einem düsteren und weitläufigen Haus mit riesigen Kachelöfen. In der Abenddämmerung, besonders im Winter, wurde das Gaslicht oder eine Petroleumlampe angezündet, und ich weiss noch, dass ich mich vor dem Geruch des ausströmenden Petroleums in dem Augenblick, bevor die Flamme hell wurde, und auch vor dem gelegentlichen Zischen des Gases fürchtete. Das Haus stand in einem grossen moderigen Garten mit einem Springbrunnen davor. Einmal trank ich Wasser aus diesem Brunnen, indem ich es mit meiner Spielzeugtrompete ansaugte, und wurde streng gerügt, als ich später Bauchschmerzen bekam und meine Sünde beichtete. Immerhin gab man mir daraufhin ein alkoholisches Tonikum, das mir sehr gut schmeckte. Richtigen Ärger bekam ich, als Willi, der Sohn des Gärtners, ein seltsames Spiel mit mir spielte. Ich musste mich auf einen Gartentisch legen und ein "krankes Häschen" sein, während er der Doktor war und meinen Penis hielt, um mich zu heilen. Als wir ertappt wurden, endete diese "Freundschaft" mit dem "schmutzigen Jungen". Mir war damals vollkommen bewusst, dass man so etwas nicht tut, und aus diesem Grund - und anderen Gründen - war das Gefühl, das ich während unserer Treffen hatte, das einer süssen und schamvollen Hingabe. Kurz darauf machte ich eine neue Entdeckung, als ich im Garten an einem Seil hinaufkletterte, aber diesmal fühlte ich mich vollkommen unschuldig und nannte die Erfahrung, die ich oft wiederholte, "meine Lieblingsübung". In unserem neuen Haus brachte ich sie sogar der Gärtnerstochter bei, während ich sie meinem älteren Bruder irgendwie nicht zeigen wollte. Ich entwickelte bereits sehr früh ein Ichbewusstsein und liebte die Geschichten über mich, die mir meine Eltern aus den Jahren erzählten, an die ich mich nicht erinnerte, zum Beispiel, wie ich innerhalb von drei Tagen mein Lispeln überwunden hatte, ebenso wie meinen "Hackbiss", bei dem ich meine Zähne aufeinandersetzte, wenn ich den Mund schloss, anstatt den Unterkiefer unter den Oberkiefer rutschen zu lassen. Ich entsinne mich tatsächlich, wie ich mit unermüdlicher Energie die korrekte Haltung übte und dafür oft gelobt wurde. Meine erste Bekanntschaft mit meinem Spiegelbild war schmerzlich; doch es gelang mir, mich davon zu überzeugen, dass ich ein aussergewöhnliches Gesicht haben musste, denn die alten Tanten oder anderen alten Damen, die uns besuchten oder die wir auf der Strasse trafen, unterliessen es nie, meinen ernsten Gesichtsausdruck zu erwähnen, und eine sagte einmal: "Da kommt ja der junge Moltke." Wie stolz mich diese Bemerkung machte, kann man daran erkennen, dass ich mich noch heute daran erinnere. Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich zu Höherem berufen war. Dennoch sind meine Erinnerungen an diese frühesten Kindheitsjahre nicht angenehm. Wenn ich ernst aussah, dann lag es nicht daran, dass ich tiefen Gedanken nachhing, wie manche Leute offenbar glaubten. In Wirklichkeit war ich meistens verträumt, voller Furcht, traurig und gelangweilt, und das Haus, in dem wir lebten, mit seinen vielen dunklen Ecken, den hohen Fenstern, den nackten Fussböden und den verschnörkelten Möbeln von erdrückender Grösse habe ich nie gemocht. Insbesondere die Standuhr versetzte mich in panische Angst. Sie hatte gedrehte Säulen, die das Uhrwerk stützten, und sehr schwere Messinggewichte. Bevor sie mit einem besonders lauten und harten Ton die volle Stunde anschlug, schien sie erst einmal Luft zu holen, wobei sie ein Geräusch machte, das wie "Tiffteliff" klang. Das hörte sich dann so an: Tiffteliff, gong, gong, gong, gong. Ich nannte sie, warum weiss ich nicht, die "Ofenuhr", und diese Ofenuhr verwandelte sich in die mörderische Lokomotive oder (mit den gedrehten Säulen als Stosszähnen) in den wütenden Elefanten meiner Alpträume, in denen sie mich langsam aber mit tödlicher Sicherheit in eine geheimnisvolle Finsternis hinein verfolgten. Ich hielt mich nicht einmal bei Tag gern in der Nähe der "Ofenuhr" auf und war froh, dass sich mein Platz am Esstisch auf der gegenüberliegenden Seite befand, wo ich sie im Auge behalten konnte und ihre Gegenwart nicht im Rücken spüren musste. Eine grosse Veränderung trat in meinem sechsten Lebensjahr ein, 1910, als meine Eltern nicht weit von der Holbeinstrasse inmitten herrlicher Kastanien ein neues Haus auf einem grossen Eckgrundstück bauen liessen. Kastanienbäume bedeuten für mich noch heute das neue, das geliebte Heim (das erste Haus war trostlos gewesen), die erste Liebe, erste Musik, meine ersten eigenen Gedichte. Ich habe dieselben Bäume fünfzehn Jahre lang vor Augen gehabt, meine gesamte bewusste Kindheit und Jugend hindurch. Anfangs war das neue Grundstück in der Karlstrasse nichts als ein herrlicher Spielplatz, wo wir auf Leitern klettern, über Schubkarren stolpern und uns im hohen Gras verkriechen konnten. Der Bauplatz war sonnig und verwildert, ein Jungenparadies. Natürlich begannen wir beide, Ludwig und ich, sobald wir eingezogen waren, nach der "Holbeinstrasse" zu quengeln. "Es war so gemütlich da", jammerten wir. Trotzdem: Im neuen Haus gab es elektrisches, gelbliches Licht, was nun wirklich anheimelnder war als das kalte weisse Gaslicht im alten Heim. Es war zentralgeheizt, und in jedem Zimmer standen Heizkörper, die noch nach frischer Farbe rochen. Die in den Empfangsräumen hatten eine Holzverkleidung, die oben mit einem Bronzegitter abgedeckt war, auf dem man im Winter sitzen und sich den Hintern wärmen konnte. Wir hatten Einbauschränke in den Schlafzimmern, und die schwerfälligen Schränke aus dem alten Haus hatte mein Vater alle blau gestrichen und wie die blauen und cremefarbenen Türen im Haus mit Blumen und Vögeln im "Bauernstil" verziert. In dem riesigen Dachgeschoss befand sich das Atelier meines Vaters, und darüber war sogar noch Platz für einen hohen Dachboden. Dieses Dachgeschoss war aussen in einem dunkelbraunen Farbton rauhverputzt, weshalb unser Haus von den Jungen in unserer Strasse "Schokoladenvilla" genannt wurde. Es war ein modernes Haus, genauer gesagt, ein Haus im "englischen Landhausstil" - geräumig, sonnig und bequem -, und stand in einem formstreng angelegten Garten mit weissen Gartenbänken, breiten Blumenbeeten und einer Vogeltränke. Auf den Rasenflächen zu beiden Seiten des Gartenpfades in der Mitte wuchsen Apfelbäume, Quitten-, Birn- und Kirschbäume. Am Zaun zum Nachbargrundstück verlief ein langes Beet, in dem Erdbeeren und Stachelbeeren angepflanzt waren, während ein Spalier aus Pfirsich- und Aprikosenbäumen den Zaun verdeckte. Die Obstbäume waren bei unserem Einzug gesetzt worden, und wir konnten zusehen, wie sie zu kräftigen, prächtigen Bäumen heranwuchsen, die mit jedem Jahr eine bessere Ernte erbrachten. Hinter dem Haus und entlang der langen Strassenfront standen blühende Büsche, ideal zum Versteckspielen. Es dauerte nicht einmal einen Monat, bis wir unseren täglichen sehnsüchtigen Spaziergang zur Holbeinstrasse aufgegeben und uns in unserem neuen Heim glücklich eingelebt hatten. Unser Kinderzimmer, ein riesengrosser Raum mit einem Bodenbelag aus Linoleum, hatte eine Loggia, eine Ecke, in der wir Schularbeiten machen konnten, und einen Kaufmannsladen. Ludwig und ich schliefen noch in weissgestrichenen Kinderbetten aus Eisen. Ausserdem war unser Zimmer mit einem ebenfalls eisernen Wäscheständer und zwei grossen blauen Kleiderschränken möbliert. In der Mitte stand ein Tisch mit Stühlen, es blieb aber noch genügend Platz auf dem Fussboden, damit wir mit Zinnsoldaten oder unserer Eisenbahn spielen konnten. Zwei Personen beeindruckten mich sehr stark während der Bauzeit und der ersten Wochen im neuen Haus. In erster Linie der Architekt. Fritz Crzellitzer war ein kleiner Mann mit dunklem Haar, einer kurzen, leicht gebogenen Nase und lustigen, braunen Augen. Wenn er auf der Baustelle erschien, seine Entwürfe ausrollte und dem Polier Anweisungen erteilte, sah ich einen Meister in Aktion. Dies, fand ich, war ein Beruf für einen Mann, der alles überschaute, ein sehr männlicher Beruf. Crzellitzer spielte Klavier, und er spielte wie ein Architekt: kräftig, strukturiert, gesetzt. Er malte auch, und auch dies tat er wie ein Architekt. Für mich wurde er zu "dem Architekten" schlechthin, und dieser Beruf, verkörpert in seiner Person und seinem Werk, unserem neuen Haus, hat mir seitdem stets Hochachtung eingeflösst. Crzellitzer gehörte zu den treibenden Kräften jener grossen Befreiungsbewegung, der modernen Architektur, von deren Ergebnissen ich mich plötzlich umgeben sah und die mich die muffigen, düsteren Häuser wie das, in dem wir vorher gewohnt hatten, verachten liess. Die andere Person, die sich ebenso aktiv an dem grossen Unternehmen beteiligt hatte, war mein Vater. Er hatte dem Architekten die ganze Zeit über die Schulter geschaut und sogar das eine oder andere Detail im Entwurf verändert und, wie er behauptete, verbessert. All die aufgemalten Vögel und Blumen an den Türen waren, wie erwähnt, sein Werk, auch der kleine Vogel, der gerade einen Klecks fallen liess und auf die Gästetoilette verwies. Er betrachtete das Haus als seine eigene Schöpfung und war mit dem Resultat äusserst zufrieden. Mein Vater Moritz Posener war ein moderner Maler. Seine Lebensgeschichte - er erzählte uns furchtbar gern von seinen frühen Jahren - scheint mir exemplarisch zu sein für die Abkehr von der Dunkelheit des vorangegangenen Jahrhunderts und die Hinwendung zum strahlenden Licht des zwanzigsten. Vater hatte keine leichte Kindheit gehabt. Mein Grossvater Josef muss ein aussergewöhnlicher Mann gewesen sein. Er stammte aus Wirsitz in der Provinz Posen, wo er eine Schneiderlehre absolviert hatte, bevor er sich zu Fuss oder mit dem Pferdewagen, wenn einer anhielt und ihn mitnahm, nach Berlin aufmachte, um dort als Schneidergeselle zu arbeiten. Von Berlin zog er zunächst weiter nach Paris und einige Jahre später nach London, wo die besten Herrenschneider sassen, bei denen man damals lernen konnte. Dort wurde er Kompagnon eines anderen jüdischen Schneiders, der dann nach New York auswanderte und ihn aufforderte, ihm zu folgen. Als mein Grossvater dort auf einem Segelschiff ankam, erfuhr er, dass sein Partner nach Rio de Janeiro weitergereist war und ihn nun dort treffen wollte. Wieder schiffte er sich ein. Als sein Schoner im Golf von Mexiko in eine wochenlange Flaute geriet, wäre er vor Hunger und Durst fast gestorben, schliesslich gelang es ihm aber, Rio zu erreichen. Die beiden gaben die Schneiderei bald auf und fingen an, mit Edelsteinen zu handeln, die sie auf langen Reisen durch den Dschungel mit Maultieren zu den Haziendas beförderten. Mein Grossvater machte ein kleines Vermögen und beschloss, in seine deutsche Heimat zurückzukehren. Er war auf dem Weg durch die dunklen engen Gassen, die zum Hafen hinunterführten, als er von Räubern überfallen wurde, die ihm den grössten Teil seiner Habe abnahmen. Danach musste er weitere fünf Jahre durchs Land ziehen und Edelsteine verkaufen, bis er sich wieder saniert hatte. Diesmal gelangte er ohne Zwischenfall nach Europa. In Den Haag heiratete er Cato van Meerloo und liess sich mit ihr in Berlin nieder, ein Mann mit bescheidenen Mitteln, die im wesentlichen aus den Einnahmen eines in Rio zurückgelassenen Juwelierladens stammten. Mein Grossvater starb Jahre vor meiner Geburt, aber ich habe sein brasilianisches Tagebuch gelesen und eine Reihe von Porträts gesehen, die mein Vater von ihm gemalt hat, speziell eines im Stil eines Meisters der Holbein-Schule mit dem Titel "Anno Aetatis Suae ..." Es zeigt das Gesicht eines Juden, der hart gearbeitet hat, eines Selfmademans, der aber selbst in seinen jungen Jahren, als er sich noch nach oben kämpfte, eine natürliche Würde besessen haben muss. Seine hellblauen Augen waren das jüdischste an seinem Gesicht. Sie hatten Leid gesehen und erfahren, sie drückten Verständnis und Mitgefühl aus, sie hatten alles überwunden. Meine Grossmutter ist sogar noch früher gestorben. Auch sie nimmt für mich nur durch die Geschichten meines Vaters Gestalt an und in einem Bild, das er einige Tage nach ihrem Tod gemalt hat: Man sieht sie an einem Vorfrühlingstag an einem geöffneten Fenster im Sterben liegen. Der Hintergrund mit dem Rasen und den kahlen Bäumen ist dunkel, und davor zeichnet sich im Halbprofil das blass schimmernde Gesicht der Sterbenden ab. Ihre Augen sind unter den schweren, faltigen Lidern fast geschlossen; ihr Profil ist rein und klar. Der alte José Posener war ein gütiger, liebevoller, strenger Vater, der mit seinen eigensinnigen, begabten, aber mit ihren überspannten Erwartungen ans Leben überforderten Kindern sicherlich seine liebe Not hatte. Das Phänomen ist möglicherweise typisch für eine jüdische Familie jener Zeit. Der alte Herr hatte die Grundlage gelegt, seine Kinder auf die höhere Schule geschickt, doch er selbst war kein gebildeter Mann. Die Kinder, die ihr Leben auf so viel höherem Niveau begannen, waren ehrgeizig. Julio, der jüngere Bruder meines Vaters, spielte virtuos, doch vollkommen gefühllos Klavier und konnte auch ziemlich gut zeichnen, musste aber nach Brasilien gehen, um sich um das Juwelengeschäft zu kümmern. Louis, der Lieblingsbruder meines Vaters, starb als junger Mann an Tuberkulose. Der jüngste Sohn George versuchte sich im Malen und in der Bildhauerei und beschloss dann, Schauspieler zu werden, wobei er sich als einmalig erfolglos erwies. Niedergeschlagen und eifersüchtig auf das einzig wahre Talent in der Familie, meinen Vater Moritz, musste er sich schliesslich mit dem drögen Beruf eines Zahnarztes begnügen. Mathilde, das einzige Mädchen unter den Geschwistern, heiratete zu früh; die Ehe wurde wieder geschieden. Und als mein Vater am Ende auch noch reich einheiratete, bekam der Groll, den seine Brüder gegen den einen hegten, der es im Leben zu etwas gebracht hatte, neue Nahrung. 2004, Hardcover/gebunden, wie neu, ca. 22 x 14,5 cm, 800g, 493 Seiten, Internationaler Versand, Banküberweisung.
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9783886807642 - POSENER, Julius: Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hrsg. von Alan
POSENER, Julius

Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hrsg. von Alan (2004)

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ORIGINAL VERPACKT - JULIUS POSENER - HEIMLICHE ERINNERUNGEN. IN DEUTSCHLAND 1904 BIS 1933 - Mit einem Anhang: In Germany again (1948) - Aus dem Englischen von Ruth Keen - Hrsg. von Alan Posener - SIEDLER VERLAG - 2004 - 493 SEITEN m. s/w-Abb. - FORMAT ca. 22 x 14,5 cm - ISBN 3886807649 bzw. 9783886807642 - GEBUNDENES EXEMPLAR MIT SCHUTZUMSCHLAG WIE ABGEBILDET - DAS EXEMPLAR IST UNBENUTZT, UNGELESEN UND NOCH ORIGINAL VERPACKT (IN FOLIE EINGESCHWEISST) - FOLIE GERINGFÜGIG OFFEN - SORGFÄLTIGER VERSAND - LIEFERZEIT/ BRD ca. 7 TAGE nach Zahlungseingang (manchmal schneller) - BITTE BEACHTEN: KEIN VERSAND AN PACKSTATIONEN - ANFRAGEN WERDEN GERN BEANTWORTET! (a/b - j9) - Heimliche Erinnerungen an Deutschland Das Umschlagbild zeigt einen Vater Anfang des vergangenen Jahrhunderts mit seinen drei Söhnen: Karl, Ludwig und - als jüngstem - Julius Posener. Das Bild strahlt die Sicherheit und Zuversicht einer grossbürgerlichen jüdischen Familie aus. Eine trügerische Sicherheit. Der Nationalsozialismus vertrieb die drei an unterschiedliche Enden der Welt: Karl, den Ältesten, ins Exil nach Australien, wo er schon 1946 starb; Ludwig nach Palästina; und Julius über England nach Malaysia. - In Kuala Lumpur, wo er Architektur lehrte, schrieb Julius Posener in der ihm noch fremden englischen Sprache seine Erinnerungen. Sie sind schärfer, direkter - und bitterer - als die Erinnerungen, die er im Alter in seiner Muttersprache verfasste und 1990 unter dem Titel »Fast so alt wie das Jahrhundert« veröffentlichte. - Es scheint, als würde das Brennglas des Exils Details vergrössern - die kindliche Schutzlosigkeit, die erwachende Sexualität, den eigenen Antisemitismus und die drohende Ausgrenzung - und so das eigene Leben wie die Brüche der Zeit umso plastischer hervortreten lassen. Das Buch ist auch - heimlich niedergeschrieben in der kolonialen Gesellschaft, die weder von Deutschen noch von Juden etwas wissen wollte - eine verstohlene Liebeserklärung an die verlorene Heimat. - "Poseners Erzählung von den geistigen Kämpfen in der Familie, der Schule und in der Jugendbewegung, seine freimütige Analyse der zerissenen Seelenlandschaft im bürgerlichen Judentum gehört zum Erhellendsten, was über die Inkubationszeit der deutschen Katastrophe von 1933 geschrieben worden ist. Seine tief ins Intime, auch Erotische greifende Analyse des Generationsproblems erinnert an ähnliche Passagen in Franz Kafkas Lebenszeugnissen." - Julius Posener (1904-1996) studierte Architektur an der Technischen Hochschule Berlin. 1935 Emigration nach Palästina, 1941 freiwillige Meldung zur britischen Armee, wurde 1946 britischer Staatsbürger. Nach Jahren der Lehrtätigkeit in London und Kuala Lumpur 1961 Berufung an den Lehrstuhl für Baugeschichte der Hochschule der Künste in Berlin. Fachveröffentlichungen. - Leseprobe: Ankunft, Abkunft Meine frühesten Erinnerungen sind traurig und beängstigend. Nach den ersten, flüchtigen und in meinem Gedächtnis nur schemenhaft erhaltenen Momenten bewusster Wahrnehmung, die nur Bewegung enthüllen - ich werde in schwindelerregende Höhen gehoben, im Gleitflug eine Treppe hinuntergetragen, zwischen die Kissen eines übergrossen Kinderwagens gestopft oder auf einen turmhohen Kinderstuhl gesetzt -, ist meine früheste, halbwegs deutliche Erinnerung diese: Jemand hält mich im Arm, ich glaube, es ist mein Vater, doch dann werde ich in andere Arme weitergereicht. Die Szene spielt sich im Esszimmer ab, und auf dem Tisch steht eine längliche Schale mit Operationsbesteck. Ich werde getröstet: Man hat mir die Mandeln herausgenommen. Es gibt keine Erinnerung an Schmerzen, nur an etwas Unverstandenes und Trauriges. Die nächste Erinnerung ist deutlicher. Ich stehe in einem Zimmer mit hoher Decke und einem Fussboden aus breiten, unregelmässigen Dielen, und dieser ist direkt unter mir besudelt. Mein Hinterteil fühlt sich klebrig an, nach warmem, weichem Kot. Ich weine. Jemand, ich glaube, es ist das Mädchen - aber meine Mutter muss kurz darauf dazugekommen sein -, eilt zu mir und sagt, ich müsse mich nicht schämen, es sei nicht meine Schuld. Die dritte Erinnerung stammt von meinem vierten Geburtstag. Einige Zeit zuvor hatten meine beiden Brüder, die drei und sechs Jahre älter waren als ich, heimlich an einer Überraschung für mich gearbeitet. An meinem grossen Tag warte ich im dunklen Korridor vor dem Geburtstagszimmer, wo ich durch einen Spalt in der Tür das Flackern des Lebenslichts sehen kann. Bald darauf werde ich in den Raum geführt und schaue erwartungsvoll zum Gabentisch hinauf. Mein ältester Bruder will mir das Modell eines Zeppelins zeigen, das er für mich gebastelt hat, aber er gerät damit an die Kerzenflamme, und das Ding fängt sofort Feuer. Schreiend renne ich aus dem Zimmer und in die Küche, wo sich alles um mich schart, um mich zu trösten. Trotz meines unvergessenen Entsetzens taten mir meine Brüder, deren Werk und die Freude, die sie mir machen wollten, zerstört worden waren, leid. Der Hangar aus Pappe, den sie für den Zeppelin gebaut hatten, blieb für viele Jahre Bestandteil unseres Spielzeugs, aber ich konnte ihn nie ansehen oder berühren, ohne einen leichten, ehrfürchtigen Schauer angesichts der damit verbundenen Tragödie zu verspüren. Jahre später, als ich über die Katastrophe von Graf Zeppelins Luftschiff in Echterdingen las, verknüpfte ich das Ereignis eng mit dem, was am Gabentisch meines vierten Geburtstags geschehen war. Danach stellen sich friedlichere Erinnerungen ein: Sie handeln von Spaziergängen an der Hand eines Dienstmädchens, zusammen mit meinem Bruder Ludwig, Karl war zu alt dafür. Wir gehen durch die Strassen der Gartenvorstadt von Berlin, in der wir lebten. Ich sehe - und rieche - noch ganz deutlich braunes Laub, das ich durch die Lücken am Fusse der gusseisernen Zäune erkennen konnte. Ich weiss nicht, warum mir gerade diese Erinnerung so viel bedeutet, aber ich gebe mich ihr noch heute gerne hin. Wir wohnten damals in der Holbeinstrasse in Lichterfelde in einem düsteren und weitläufigen Haus mit riesigen Kachelöfen. In der Abenddämmerung, besonders im Winter, wurde das Gaslicht oder eine Petroleumlampe angezündet, und ich weiss noch, dass ich mich vor dem Geruch des ausströmenden Petroleums in dem Augenblick, bevor die Flamme hell wurde, und auch vor dem gelegentlichen Zischen des Gases fürchtete. Das Haus stand in einem grossen moderigen Garten mit einem Springbrunnen davor. Einmal trank ich Wasser aus diesem Brunnen, indem ich es mit meiner Spielzeugtrompete ansaugte, und wurde streng gerügt, als ich später Bauchschmerzen bekam und meine Sünde beichtete. Immerhin gab man mir daraufhin ein alkoholisches Tonikum, das mir sehr gut schmeckte. Richtigen Ärger bekam ich, als Willi, der Sohn des Gärtners, ein seltsames Spiel mit mir spielte. Ich musste mich auf einen Gartentisch legen und ein "krankes Häschen" sein, während er der Doktor war und meinen Penis hielt, um mich zu heilen. Als wir ertappt wurden, endete diese "Freundschaft" mit dem "schmutzigen Jungen". Mir war damals vollkommen bewusst, dass man so etwas nicht tut, und aus diesem Grund - und anderen Gründen - war das Gefühl, das ich während unserer Treffen hatte, das einer süssen und schamvollen Hingabe. Kurz darauf machte ich eine neue Entdeckung, als ich im Garten an einem Seil hinaufkletterte, aber diesmal fühlte ich mich vollkommen unschuldig und nannte die Erfahrung, die ich oft wiederholte, "meine Lieblingsübung". In unserem neuen Haus brachte ich sie sogar der Gärtnerstochter bei, während ich sie meinem älteren Bruder irgendwie nicht zeigen wollte. Ich entwickelte bereits sehr früh ein Ichbewusstsein und liebte die Geschichten über mich, die mir meine Eltern aus den Jahren erzählten, an die ich mich nicht erinnerte, zum Beispiel, wie ich innerhalb von drei Tagen mein Lispeln überwunden hatte, ebenso wie meinen "Hackbiss", bei dem ich meine Zähne aufeinandersetzte, wenn ich den Mund schloss, anstatt den Unterkiefer unter den Oberkiefer rutschen zu lassen. Ich entsinne mich tatsächlich, wie ich mit unermüdlicher Energie die korrekte Haltung übte und dafür oft gelobt wurde. Meine erste Bekanntschaft mit meinem Spiegelbild war schmerzlich; doch es gelang mir, mich davon zu überzeugen, dass ich ein aussergewöhnliches Gesicht haben musste, denn die alten Tanten oder anderen alten Damen, die uns besuchten oder die wir auf der Strasse trafen, unterliessen es nie, meinen ernsten Gesichtsausdruck zu erwähnen, und eine sagte einmal: "Da kommt ja der junge Moltke." Wie stolz mich diese Bemerkung machte, kann man daran erkennen, dass ich mich noch heute daran erinnere. Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich zu Höherem berufen war. Dennoch sind meine Erinnerungen an diese frühesten Kindheitsjahre nicht angenehm. Wenn ich ernst aussah, dann lag es nicht daran, dass ich tiefen Gedanken nachhing, wie manche Leute offenbar glaubten. In Wirklichkeit war ich meistens verträumt, voller Furcht, traurig und gelangweilt, und das Haus, in dem wir lebten, mit seinen vielen dunklen Ecken, den hohen Fenstern, den nackten Fussböden und den verschnörkelten Möbeln von erdrückender Grösse habe ich nie gemocht. Insbesondere die Standuhr versetzte mich in panische Angst. Sie hatte gedrehte Säulen, die das Uhrwerk stützten, und sehr schwere Messinggewichte. Bevor sie mit einem besonders lauten und harten Ton die volle Stunde anschlug, schien sie erst einmal Luft zu holen, wobei sie ein Geräusch machte, das wie "Tiffteliff" klang. Das hörte sich dann so an: Tiffteliff, gong, gong, gong, gong. Ich nannte sie, warum weiss ich nicht, die "Ofenuhr", und diese Ofenuhr verwandelte sich in die mörderische Lokomotive oder (mit den gedrehten Säulen als Stosszähnen) in den wütenden Elefanten meiner Alpträume, in denen sie mich langsam aber mit tödlicher Sicherheit in eine geheimnisvolle Finsternis hinein verfolgten. Ich hielt mich nicht einmal bei Tag gern in der Nähe der "Ofenuhr" auf und war froh, dass sich mein Platz am Esstisch auf der gegenüberliegenden Seite befand, wo ich sie im Auge behalten konnte und ihre Gegenwart nicht im Rücken spüren musste. Eine grosse Veränderung trat in meinem sechsten Lebensjahr ein, 1910, als meine Eltern nicht weit von der Holbeinstrasse inmitten herrlicher Kastanien ein neues Haus auf einem grossen Eckgrundstück bauen liessen. Kastanienbäume bedeuten für mich noch heute das neue, das geliebte Heim (das erste Haus war trostlos gewesen), die erste Liebe, erste Musik, meine ersten eigenen Gedichte. Ich habe dieselben Bäume fünfzehn Jahre lang vor Augen gehabt, meine gesamte bewusste Kindheit und Jugend hindurch. Anfangs war das neue Grundstück in der Karlstrasse nichts als ein herrlicher Spielplatz, wo wir auf Leitern klettern, über Schubkarren stolpern und uns im hohen Gras verkriechen konnten. Der Bauplatz war sonnig und verwildert, ein Jungenparadies. Natürlich begannen wir beide, Ludwig und ich, sobald wir eingezogen waren, nach der "Holbeinstrasse" zu quengeln. "Es war so gemütlich da", jammerten wir. Trotzdem: Im neuen Haus gab es elektrisches, gelbliches Licht, was nun wirklich anheimelnder war als das kalte weisse Gaslicht im alten Heim. Es war zentralgeheizt, und in jedem Zimmer standen Heizkörper, die noch nach frischer Farbe rochen. Die in den Empfangsräumen hatten eine Holzverkleidung, die oben mit einem Bronzegitter abgedeckt war, auf dem man im Winter sitzen und sich den Hintern wärmen konnte. Wir hatten Einbauschränke in den Schlafzimmern, und die schwerfälligen Schränke aus dem alten Haus hatte mein Vater alle blau gestrichen und wie die blauen und cremefarbenen Türen im Haus mit Blumen und Vögeln im "Bauernstil" verziert. In dem riesigen Dachgeschoss befand sich das Atelier meines Vaters, und darüber war sogar noch Platz für einen hohen Dachboden. Dieses Dachgeschoss war aussen in einem dunkelbraunen Farbton rauhverputzt, weshalb unser Haus von den Jungen in unserer Strasse "Schokoladenvilla" genannt wurde. Es war ein modernes Haus, genauer gesagt, ein Haus im "englischen Landhausstil" - geräumig, sonnig und bequem -, und stand in einem formstreng angelegten Garten mit weissen Gartenbänken, breiten Blumenbeeten und einer Vogeltränke. Auf den Rasenflächen zu beiden Seiten des Gartenpfades in der Mitte wuchsen Apfelbäume, Quitten-, Birn- und Kirschbäume. Am Zaun zum Nachbargrundstück verlief ein langes Beet, in dem Erdbeeren und Stachelbeeren angepflanzt waren, während ein Spalier aus Pfirsich- und Aprikosenbäumen den Zaun verdeckte. Die Obstbäume waren bei unserem Einzug gesetzt worden, und wir konnten zusehen, wie sie zu kräftigen, prächtigen Bäumen heranwuchsen, die mit jedem Jahr eine bessere Ernte erbrachten. Hinter dem Haus und entlang der langen Strassenfront standen blühende Büsche, ideal zum Versteckspielen. Es dauerte nicht einmal einen Monat, bis wir unseren täglichen sehnsüchtigen Spaziergang zur Holbeinstrasse aufgegeben und uns in unserem neuen Heim glücklich eingelebt hatten. Unser Kinderzimmer, ein riesengrosser Raum mit einem Bodenbelag aus Linoleum, hatte eine Loggia, eine Ecke, in der wir Schularbeiten machen konnten, und einen Kaufmannsladen. Ludwig und ich schliefen noch in weissgestrichenen Kinderbetten aus Eisen. Ausserdem war unser Zimmer mit einem ebenfalls eisernen Wäscheständer und zwei grossen blauen Kleiderschränken möbliert. In der Mitte stand ein Tisch mit Stühlen, es blieb aber noch genügend Platz auf dem Fussboden, damit wir mit Zinnsoldaten oder unserer Eisenbahn spielen konnten. Zwei Personen beeindruckten mich sehr stark während der Bauzeit und der ersten Wochen im neuen Haus. In erster Linie der Architekt. Fritz Crzellitzer war ein kleiner Mann mit dunklem Haar, einer kurzen, leicht gebogenen Nase und lustigen, braunen Augen. Wenn er auf der Baustelle erschien, seine Entwürfe ausrollte und dem Polier Anweisungen erteilte, sah ich einen Meister in Aktion. Dies, fand ich, war ein Beruf für einen Mann, der alles überschaute, ein sehr männlicher Beruf. Crzellitzer spielte Klavier, und er spielte wie ein Architekt: kräftig, strukturiert, gesetzt. Er malte auch, und auch dies tat er wie ein Architekt. Für mich wurde er zu "dem Architekten" schlechthin, und dieser Beruf, verkörpert in seiner Person und seinem Werk, unserem neuen Haus, hat mir seitdem stets Hochachtung eingeflösst. Crzellitzer gehörte zu den treibenden Kräften jener grossen Befreiungsbewegung, der modernen Architektur, von deren Ergebnissen ich mich plötzlich umgeben sah und die mich die muffigen, düsteren Häuser wie das, in dem wir vorher gewohnt hatten, verachten liess. Die andere Person, die sich ebenso aktiv an dem grossen Unternehmen beteiligt hatte, war mein Vater. Er hatte dem Architekten die ganze Zeit über die Schulter geschaut und sogar das eine oder andere Detail im Entwurf verändert und, wie er behauptete, verbessert. All die aufgemalten Vögel und Blumen an den Türen waren, wie erwähnt, sein Werk, auch der kleine Vogel, der gerade einen Klecks fallen liess und auf die Gästetoilette verwies. Er betrachtete das Haus als seine eigene Schöpfung und war mit dem Resultat äusserst zufrieden. Mein Vater Moritz Posener war ein moderner Maler. Seine Lebensgeschichte - er erzählte uns furchtbar gern von seinen frühen Jahren - scheint mir exemplarisch zu sein für die Abkehr von der Dunkelheit des vorangegangenen Jahrhunderts und die Hinwendung zum strahlenden Licht des zwanzigsten. Vater hatte keine leichte Kindheit gehabt. Mein Grossvater Josef muss ein aussergewöhnlicher Mann gewesen sein. Er stammte aus Wirsitz in der Provinz Posen, wo er eine Schneiderlehre absolviert hatte, bevor er sich zu Fuss oder mit dem Pferdewagen, wenn einer anhielt und ihn mitnahm, nach Berlin aufmachte, um dort als Schneidergeselle zu arbeiten. Von Berlin zog er zunächst weiter nach Paris und einige Jahre später nach London, wo die besten Herrenschneider sassen, bei denen man damals lernen konnte. Dort wurde er Kompagnon eines anderen jüdischen Schneiders, der dann nach New York auswanderte und ihn aufforderte, ihm zu folgen. Als mein Grossvater dort auf einem Segelschiff ankam, erfuhr er, dass sein Partner nach Rio de Janeiro weitergereist war und ihn nun dort treffen wollte. Wieder schiffte er sich ein. Als sein Schoner im Golf von Mexiko in eine wochenlange Flaute geriet, wäre er vor Hunger und Durst fast gestorben, schliesslich gelang es ihm aber, Rio zu erreichen. Die beiden gaben die Schneiderei bald auf und fingen an, mit Edelsteinen zu handeln, die sie auf langen Reisen durch den Dschungel mit Maultieren zu den Haziendas beförderten. Mein Grossvater machte ein kleines Vermögen und beschloss, in seine deutsche Heimat zurückzukehren. Er war auf dem Weg durch die dunklen engen Gassen, die zum Hafen hinunterführten, als er von Räubern überfallen wurde, die ihm den grössten Teil seiner Habe abnahmen. Danach musste er weitere fünf Jahre durchs Land ziehen und Edelsteine verkaufen, bis er sich wieder saniert hatte. Diesmal gelangte er ohne Zwischenfall nach Europa. In Den Haag heiratete er Cato van Meerloo und liess sich mit ihr in Berlin nieder, ein Mann mit bescheidenen Mitteln, die im wesentlichen aus den Einnahmen eines in Rio zurückgelassenen Juwelierladens stammten. Mein Grossvater starb Jahre vor meiner Geburt, aber ich habe sein brasilianisches Tagebuch gelesen und eine Reihe von Porträts gesehen, die mein Vater von ihm gemalt hat, speziell eines im Stil eines Meisters der Holbein-Schule mit dem Titel "Anno Aetatis Suae ..." Es zeigt das Gesicht eines Juden, der hart gearbeitet hat, eines Selfmademans, der aber selbst in seinen jungen Jahren, als er sich noch nach oben kämpfte, eine natürliche Würde besessen haben muss. Seine hellblauen Augen waren das jüdischste an seinem Gesicht. Sie hatten Leid gesehen und erfahren, sie drückten Verständnis und Mitgefühl aus, sie hatten alles überwunden. Meine Grossmutter ist sogar noch früher gestorben. Auch sie nimmt für mich nur durch die Geschichten meines Vaters Gestalt an und in einem Bild, das er einige Tage nach ihrem Tod gemalt hat: Man sieht sie an einem Vorfrühlingstag an einem geöffneten Fenster im Sterben liegen. Der Hintergrund mit dem Rasen und den kahlen Bäumen ist dunkel, und davor zeichnet sich im Halbprofil das blass schimmernde Gesicht der Sterbenden ab. Ihre Augen sind unter den schweren, faltigen Lidern fast geschlossen; ihr Profil ist rein und klar. Der alte José Posener war ein gütiger, liebevoller, strenger Vater, der mit seinen eigensinnigen, begabten, aber mit ihren überspannten Erwartungen ans Leben überforderten Kindern sicherlich seine liebe Not hatte. Das Phänomen ist möglicherweise typisch für eine jüdische Familie jener Zeit. Der alte Herr hatte die Grundlage gelegt, seine Kinder auf die höhere Schule geschickt, doch er selbst war kein gebildeter Mann. Die Kinder, die ihr Leben auf so viel höherem Niveau begannen, waren ehrgeizig. Julio, der jüngere Bruder meines Vaters, spielte virtuos, doch vollkommen gefühllos Klavier und konnte auch ziemlich gut zeichnen, musste aber nach Brasilien gehen, um sich um das Juwelengeschäft zu kümmern. Louis, der Lieblingsbruder meines Vaters, starb als junger Mann an Tuberkulose. Der jüngste Sohn George versuchte sich im Malen und in der Bildhauerei und beschloss dann, Schauspieler zu werden, wobei er sich als einmalig erfolglos erwies. Niedergeschlagen und eifersüchtig auf das einzig wahre Talent in der Familie, meinen Vater Moritz, musste er sich schliesslich mit dem drögen Beruf eines Zahnarztes begnügen. Mathilde, das einzige Mädchen unter den Geschwistern, heiratete zu früh; die Ehe wurde wieder geschieden. Und als mein Vater am Ende auch noch reich einheiratete, bekam der Groll, den seine Brüder gegen den einen hegten, der es im Leben zu etwas gebracht hatte, neue Nahrung. 2004, Hardcover/gebunden, wie neu, ca. 22 x 14,5 cm, 800g, 493 Seiten, Internationaler Versand, Banküberweisung.
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9783886807642 - POSENER, Julius: Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hrsg. von Alan
POSENER, Julius

Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hrsg. von Alan (2004)

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ORIGINAL VERPACKT - JULIUS POSENER - HEIMLICHE ERINNERUNGEN. IN DEUTSCHLAND 1904 BIS 1933 - Mit einem Anhang: In Germany again (1948) - Aus dem Englischen von Ruth Keen - Hrsg. von Alan Posener - SIEDLER VERLAG - 2004 - 493 SEITEN m. s/w-Abb. - FORMAT ca. 22 x 14,5 cm - ISBN 3886807649 bzw. 9783886807642 - GEBUNDENES EXEMPLAR MIT SCHUTZUMSCHLAG WIE ABGEBILDET - DAS EXEMPLAR IST UNBENUTZT, UNGELESEN UND NOCH ORIGINAL VERPACKT (IN FOLIE EINGESCHWEISST) - FOLIE GERINGFÜGIG OFFEN - SORGFÄLTIGER VERSAND - LIEFERZEIT/ BRD ca. 7 TAGE nach Zahlungseingang (manchmal schneller) - BITTE BEACHTEN: KEIN VERSAND AN PACKSTATIONEN - ANFRAGEN WERDEN GERN BEANTWORTET! (a/b - j9) - Heimliche Erinnerungen an Deutschland Das Umschlagbild zeigt einen Vater Anfang des vergangenen Jahrhunderts mit seinen drei Söhnen: Karl, Ludwig und - als jüngstem - Julius Posener. Das Bild strahlt die Sicherheit und Zuversicht einer grossbürgerlichen jüdischen Familie aus. Eine trügerische Sicherheit. Der Nationalsozialismus vertrieb die drei an unterschiedliche Enden der Welt: Karl, den Ältesten, ins Exil nach Australien, wo er schon 1946 starb; Ludwig nach Palästina; und Julius über England nach Malaysia. - In Kuala Lumpur, wo er Architektur lehrte, schrieb Julius Posener in der ihm noch fremden englischen Sprache seine Erinnerungen. Sie sind schärfer, direkter - und bitterer - als die Erinnerungen, die er im Alter in seiner Muttersprache verfasste und 1990 unter dem Titel »Fast so alt wie das Jahrhundert« veröffentlichte. - Es scheint, als würde das Brennglas des Exils Details vergrössern - die kindliche Schutzlosigkeit, die erwachende Sexualität, den eigenen Antisemitismus und die drohende Ausgrenzung - und so das eigene Leben wie die Brüche der Zeit umso plastischer hervortreten lassen. Das Buch ist auch - heimlich niedergeschrieben in der kolonialen Gesellschaft, die weder von Deutschen noch von Juden etwas wissen wollte - eine verstohlene Liebeserklärung an die verlorene Heimat. - "Poseners Erzählung von den geistigen Kämpfen in der Familie, der Schule und in der Jugendbewegung, seine freimütige Analyse der zerissenen Seelenlandschaft im bürgerlichen Judentum gehört zum Erhellendsten, was über die Inkubationszeit der deutschen Katastrophe von 1933 geschrieben worden ist. Seine tief ins Intime, auch Erotische greifende Analyse des Generationsproblems erinnert an ähnliche Passagen in Franz Kafkas Lebenszeugnissen." - Julius Posener (1904-1996) studierte Architektur an der Technischen Hochschule Berlin. 1935 Emigration nach Palästina, 1941 freiwillige Meldung zur britischen Armee, wurde 1946 britischer Staatsbürger. Nach Jahren der Lehrtätigkeit in London und Kuala Lumpur 1961 Berufung an den Lehrstuhl für Baugeschichte der Hochschule der Künste in Berlin. Fachveröffentlichungen. - Leseprobe: Ankunft, Abkunft Meine frühesten Erinnerungen sind traurig und beängstigend. Nach den ersten, flüchtigen und in meinem Gedächtnis nur schemenhaft erhaltenen Momenten bewusster Wahrnehmung, die nur Bewegung enthüllen - ich werde in schwindelerregende Höhen gehoben, im Gleitflug eine Treppe hinuntergetragen, zwischen die Kissen eines übergrossen Kinderwagens gestopft oder auf einen turmhohen Kinderstuhl gesetzt -, ist meine früheste, halbwegs deutliche Erinnerung diese: Jemand hält mich im Arm, ich glaube, es ist mein Vater, doch dann werde ich in andere Arme weitergereicht. Die Szene spielt sich im Esszimmer ab, und auf dem Tisch steht eine längliche Schale mit Operationsbesteck. Ich werde getröstet: Man hat mir die Mandeln herausgenommen. Es gibt keine Erinnerung an Schmerzen, nur an etwas Unverstandenes und Trauriges. Die nächste Erinnerung ist deutlicher. Ich stehe in einem Zimmer mit hoher Decke und einem Fussboden aus breiten, unregelmässigen Dielen, und dieser ist direkt unter mir besudelt. Mein Hinterteil fühlt sich klebrig an, nach warmem, weichem Kot. Ich weine. Jemand, ich glaube, es ist das Mädchen - aber meine Mutter muss kurz darauf dazugekommen sein -, eilt zu mir und sagt, ich müsse mich nicht schämen, es sei nicht meine Schuld. Die dritte Erinnerung stammt von meinem vierten Geburtstag. Einige Zeit zuvor hatten meine beiden Brüder, die drei und sechs Jahre älter waren als ich, heimlich an einer Überraschung für mich gearbeitet. An meinem grossen Tag warte ich im dunklen Korridor vor dem Geburtstagszimmer, wo ich durch einen Spalt in der Tür das Flackern des Lebenslichts sehen kann. Bald darauf werde ich in den Raum geführt und schaue erwartungsvoll zum Gabentisch hinauf. Mein ältester Bruder will mir das Modell eines Zeppelins zeigen, das er für mich gebastelt hat, aber er gerät damit an die Kerzenflamme, und das Ding fängt sofort Feuer. Schreiend renne ich aus dem Zimmer und in die Küche, wo sich alles um mich schart, um mich zu trösten. Trotz meines unvergessenen Entsetzens taten mir meine Brüder, deren Werk und die Freude, die sie mir machen wollten, zerstört worden waren, leid. Der Hangar aus Pappe, den sie für den Zeppelin gebaut hatten, blieb für viele Jahre Bestandteil unseres Spielzeugs, aber ich konnte ihn nie ansehen oder berühren, ohne einen leichten, ehrfürchtigen Schauer angesichts der damit verbundenen Tragödie zu verspüren. Jahre später, als ich über die Katastrophe von Graf Zeppelins Luftschiff in Echterdingen las, verknüpfte ich das Ereignis eng mit dem, was am Gabentisch meines vierten Geburtstags geschehen war. Danach stellen sich friedlichere Erinnerungen ein: Sie handeln von Spaziergängen an der Hand eines Dienstmädchens, zusammen mit meinem Bruder Ludwig, Karl war zu alt dafür. Wir gehen durch die Strassen der Gartenvorstadt von Berlin, in der wir lebten. Ich sehe - und rieche - noch ganz deutlich braunes Laub, das ich durch die Lücken am Fusse der gusseisernen Zäune erkennen konnte. Ich weiss nicht, warum mir gerade diese Erinnerung so viel bedeutet, aber ich gebe mich ihr noch heute gerne hin. Wir wohnten damals in der Holbeinstrasse in Lichterfelde in einem düsteren und weitläufigen Haus mit riesigen Kachelöfen. In der Abenddämmerung, besonders im Winter, wurde das Gaslicht oder eine Petroleumlampe angezündet, und ich weiss noch, dass ich mich vor dem Geruch des ausströmenden Petroleums in dem Augenblick, bevor die Flamme hell wurde, und auch vor dem gelegentlichen Zischen des Gases fürchtete. Das Haus stand in einem grossen moderigen Garten mit einem Springbrunnen davor. Einmal trank ich Wasser aus diesem Brunnen, indem ich es mit meiner Spielzeugtrompete ansaugte, und wurde streng gerügt, als ich später Bauchschmerzen bekam und meine Sünde beichtete. Immerhin gab man mir daraufhin ein alkoholisches Tonikum, das mir sehr gut schmeckte. Richtigen Ärger bekam ich, als Willi, der Sohn des Gärtners, ein seltsames Spiel mit mir spielte. Ich musste mich auf einen Gartentisch legen und ein "krankes Häschen" sein, während er der Doktor war und meinen Penis hielt, um mich zu heilen. Als wir ertappt wurden, endete diese "Freundschaft" mit dem "schmutzigen Jungen". Mir war damals vollkommen bewusst, dass man so etwas nicht tut, und aus diesem Grund - und anderen Gründen - war das Gefühl, das ich während unserer Treffen hatte, das einer süssen und schamvollen Hingabe. Kurz darauf machte ich eine neue Entdeckung, als ich im Garten an einem Seil hinaufkletterte, aber diesmal fühlte ich mich vollkommen unschuldig und nannte die Erfahrung, die ich oft wiederholte, "meine Lieblingsübung". In unserem neuen Haus brachte ich sie sogar der Gärtnerstochter bei, während ich sie meinem älteren Bruder irgendwie nicht zeigen wollte. Ich entwickelte bereits sehr früh ein Ichbewusstsein und liebte die Geschichten über mich, die mir meine Eltern aus den Jahren erzählten, an die ich mich nicht erinnerte, zum Beispiel, wie ich innerhalb von drei Tagen mein Lispeln überwunden hatte, ebenso wie meinen "Hackbiss", bei dem ich meine Zähne aufeinandersetzte, wenn ich den Mund schloss, anstatt den Unterkiefer unter den Oberkiefer rutschen zu lassen. Ich entsinne mich tatsächlich, wie ich mit unermüdlicher Energie die korrekte Haltung übte und dafür oft gelobt wurde. Meine erste Bekanntschaft mit meinem Spiegelbild war schmerzlich; doch es gelang mir, mich davon zu überzeugen, dass ich ein aussergewöhnliches Gesicht haben musste, denn die alten Tanten oder anderen alten Damen, die uns besuchten oder die wir auf der Strasse trafen, unterliessen es nie, meinen ernsten Gesichtsausdruck zu erwähnen, und eine sagte einmal: "Da kommt ja der junge Moltke." Wie stolz mich diese Bemerkung machte, kann man daran erkennen, dass ich mich noch heute daran erinnere. Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich zu Höherem berufen war. Dennoch sind meine Erinnerungen an diese frühesten Kindheitsjahre nicht angenehm. Wenn ich ernst aussah, dann lag es nicht daran, dass ich tiefen Gedanken nachhing, wie manche Leute offenbar glaubten. In Wirklichkeit war ich meistens verträumt, voller Furcht, traurig und gelangweilt, und das Haus, in dem wir lebten, mit seinen vielen dunklen Ecken, den hohen Fenstern, den nackten Fussböden und den verschnörkelten Möbeln von erdrückender Grösse habe ich nie gemocht. Insbesondere die Standuhr versetzte mich in panische Angst. Sie hatte gedrehte Säulen, die das Uhrwerk stützten, und sehr schwere Messinggewichte. Bevor sie mit einem besonders lauten und harten Ton die volle Stunde anschlug, schien sie erst einmal Luft zu holen, wobei sie ein Geräusch machte, das wie "Tiffteliff" klang. Das hörte sich dann so an: Tiffteliff, gong, gong, gong, gong. Ich nannte sie, warum weiss ich nicht, die "Ofenuhr", und diese Ofenuhr verwandelte sich in die mörderische Lokomotive oder (mit den gedrehten Säulen als Stosszähnen) in den wütenden Elefanten meiner Alpträume, in denen sie mich langsam aber mit tödlicher Sicherheit in eine geheimnisvolle Finsternis hinein verfolgten. Ich hielt mich nicht einmal bei Tag gern in der Nähe der "Ofenuhr" auf und war froh, dass sich mein Platz am Esstisch auf der gegenüberliegenden Seite befand, wo ich sie im Auge behalten konnte und ihre Gegenwart nicht im Rücken spüren musste. Eine grosse Veränderung trat in meinem sechsten Lebensjahr ein, 1910, als meine Eltern nicht weit von der Holbeinstrasse inmitten herrlicher Kastanien ein neues Haus auf einem grossen Eckgrundstück bauen liessen. Kastanienbäume bedeuten für mich noch heute das neue, das geliebte Heim (das erste Haus war trostlos gewesen), die erste Liebe, erste Musik, meine ersten eigenen Gedichte. Ich habe dieselben Bäume fünfzehn Jahre lang vor Augen gehabt, meine gesamte bewusste Kindheit und Jugend hindurch. Anfangs war das neue Grundstück in der Karlstrasse nichts als ein herrlicher Spielplatz, wo wir auf Leitern klettern, über Schubkarren stolpern und uns im hohen Gras verkriechen konnten. Der Bauplatz war sonnig und verwildert, ein Jungenparadies. Natürlich begannen wir beide, Ludwig und ich, sobald wir eingezogen waren, nach der "Holbeinstrasse" zu quengeln. "Es war so gemütlich da", jammerten wir. Trotzdem: Im neuen Haus gab es elektrisches, gelbliches Licht, was nun wirklich anheimelnder war als das kalte weisse Gaslicht im alten Heim. Es war zentralgeheizt, und in jedem Zimmer standen Heizkörper, die noch nach frischer Farbe rochen. Die in den Empfangsräumen hatten eine Holzverkleidung, die oben mit einem Bronzegitter abgedeckt war, auf dem man im Winter sitzen und sich den Hintern wärmen konnte. Wir hatten Einbauschränke in den Schlafzimmern, und die schwerfälligen Schränke aus dem alten Haus hatte mein Vater alle blau gestrichen und wie die blauen und cremefarbenen Türen im Haus mit Blumen und Vögeln im "Bauernstil" verziert. In dem riesigen Dachgeschoss befand sich das Atelier meines Vaters, und darüber war sogar noch Platz für einen hohen Dachboden. Dieses Dachgeschoss war aussen in einem dunkelbraunen Farbton rauhverputzt, weshalb unser Haus von den Jungen in unserer Strasse "Schokoladenvilla" genannt wurde. Es war ein modernes Haus, genauer gesagt, ein Haus im "englischen Landhausstil" - geräumig, sonnig und bequem -, und stand in einem formstreng angelegten Garten mit weissen Gartenbänken, breiten Blumenbeeten und einer Vogeltränke. Auf den Rasenflächen zu beiden Seiten des Gartenpfades in der Mitte wuchsen Apfelbäume, Quitten-, Birn- und Kirschbäume. Am Zaun zum Nachbargrundstück verlief ein langes Beet, in dem Erdbeeren und Stachelbeeren angepflanzt waren, während ein Spalier aus Pfirsich- und Aprikosenbäumen den Zaun verdeckte. Die Obstbäume waren bei unserem Einzug gesetzt worden, und wir konnten zusehen, wie sie zu kräftigen, prächtigen Bäumen heranwuchsen, die mit jedem Jahr eine bessere Ernte erbrachten. Hinter dem Haus und entlang der langen Strassenfront standen blühende Büsche, ideal zum Versteckspielen. Es dauerte nicht einmal einen Monat, bis wir unseren täglichen sehnsüchtigen Spaziergang zur Holbeinstrasse aufgegeben und uns in unserem neuen Heim glücklich eingelebt hatten. Unser Kinderzimmer, ein riesengrosser Raum mit einem Bodenbelag aus Linoleum, hatte eine Loggia, eine Ecke, in der wir Schularbeiten machen konnten, und einen Kaufmannsladen. Ludwig und ich schliefen noch in weissgestrichenen Kinderbetten aus Eisen. Ausserdem war unser Zimmer mit einem ebenfalls eisernen Wäscheständer und zwei grossen blauen Kleiderschränken möbliert. In der Mitte stand ein Tisch mit Stühlen, es blieb aber noch genügend Platz auf dem Fussboden, damit wir mit Zinnsoldaten oder unserer Eisenbahn spielen konnten. Zwei Personen beeindruckten mich sehr stark während der Bauzeit und der ersten Wochen im neuen Haus. In erster Linie der Architekt. Fritz Crzellitzer war ein kleiner Mann mit dunklem Haar, einer kurzen, leicht gebogenen Nase und lustigen, braunen Augen. Wenn er auf der Baustelle erschien, seine Entwürfe ausrollte und dem Polier Anweisungen erteilte, sah ich einen Meister in Aktion. Dies, fand ich, war ein Beruf für einen Mann, der alles überschaute, ein sehr männlicher Beruf. Crzellitzer spielte Klavier, und er spielte wie ein Architekt: kräftig, strukturiert, gesetzt. Er malte auch, und auch dies tat er wie ein Architekt. Für mich wurde er zu "dem Architekten" schlechthin, und dieser Beruf, verkörpert in seiner Person und seinem Werk, unserem neuen Haus, hat mir seitdem stets Hochachtung eingeflösst. Crzellitzer gehörte zu den treibenden Kräften jener grossen Befreiungsbewegung, der modernen Architektur, von deren Ergebnissen ich mich plötzlich umgeben sah und die mich die muffigen, düsteren Häuser wie das, in dem wir vorher gewohnt hatten, verachten liess. Die andere Person, die sich ebenso aktiv an dem grossen Unternehmen beteiligt hatte, war mein Vater. Er hatte dem Architekten die ganze Zeit über die Schulter geschaut und sogar das eine oder andere Detail im Entwurf verändert und, wie er behauptete, verbessert. All die aufgemalten Vögel und Blumen an den Türen waren, wie erwähnt, sein Werk, auch der kleine Vogel, der gerade einen Klecks fallen liess und auf die Gästetoilette verwies. Er betrachtete das Haus als seine eigene Schöpfung und war mit dem Resultat äusserst zufrieden. Mein Vater Moritz Posener war ein moderner Maler. Seine Lebensgeschichte - er erzählte uns furchtbar gern von seinen frühen Jahren - scheint mir exemplarisch zu sein für die Abkehr von der Dunkelheit des vorangegangenen Jahrhunderts und die Hinwendung zum strahlenden Licht des zwanzigsten. Vater hatte keine leichte Kindheit gehabt. Mein Grossvater Josef muss ein aussergewöhnlicher Mann gewesen sein. Er stammte aus Wirsitz in der Provinz Posen, wo er eine Schneiderlehre absolviert hatte, bevor er sich zu Fuss oder mit dem Pferdewagen, wenn einer anhielt und ihn mitnahm, nach Berlin aufmachte, um dort als Schneidergeselle zu arbeiten. Von Berlin zog er zunächst weiter nach Paris und einige Jahre später nach London, wo die besten Herrenschneider sassen, bei denen man damals lernen konnte. Dort wurde er Kompagnon eines anderen jüdischen Schneiders, der dann nach New York auswanderte und ihn aufforderte, ihm zu folgen. Als mein Grossvater dort auf einem Segelschiff ankam, erfuhr er, dass sein Partner nach Rio de Janeiro weitergereist war und ihn nun dort treffen wollte. Wieder schiffte er sich ein. Als sein Schoner im Golf von Mexiko in eine wochenlange Flaute geriet, wäre er vor Hunger und Durst fast gestorben, schliesslich gelang es ihm aber, Rio zu erreichen. Die beiden gaben die Schneiderei bald auf und fingen an, mit Edelsteinen zu handeln, die sie auf langen Reisen durch den Dschungel mit Maultieren zu den Haziendas beförderten. Mein Grossvater machte ein kleines Vermögen und beschloss, in seine deutsche Heimat zurückzukehren. Er war auf dem Weg durch die dunklen engen Gassen, die zum Hafen hinunterführten, als er von Räubern überfallen wurde, die ihm den grössten Teil seiner Habe abnahmen. Danach musste er weitere fünf Jahre durchs Land ziehen und Edelsteine verkaufen, bis er sich wieder saniert hatte. Diesmal gelangte er ohne Zwischenfall nach Europa. In Den Haag heiratete er Cato van Meerloo und liess sich mit ihr in Berlin nieder, ein Mann mit bescheidenen Mitteln, die im wesentlichen aus den Einnahmen eines in Rio zurückgelassenen Juwelierladens stammten. Mein Grossvater starb Jahre vor meiner Geburt, aber ich habe sein brasilianisches Tagebuch gelesen und eine Reihe von Porträts gesehen, die mein Vater von ihm gemalt hat, speziell eines im Stil eines Meisters der Holbein-Schule mit dem Titel "Anno Aetatis Suae ..." Es zeigt das Gesicht eines Juden, der hart gearbeitet hat, eines Selfmademans, der aber selbst in seinen jungen Jahren, als er sich noch nach oben kämpfte, eine natürliche Würde besessen haben muss. Seine hellblauen Augen waren das jüdischste an seinem Gesicht. Sie hatten Leid gesehen und erfahren, sie drückten Verständnis und Mitgefühl aus, sie hatten alles überwunden. Meine Grossmutter ist sogar noch früher gestorben. Auch sie nimmt für mich nur durch die Geschichten meines Vaters Gestalt an und in einem Bild, das er einige Tage nach ihrem Tod gemalt hat: Man sieht sie an einem Vorfrühlingstag an einem geöffneten Fenster im Sterben liegen. Der Hintergrund mit dem Rasen und den kahlen Bäumen ist dunkel, und davor zeichnet sich im Halbprofil das blass schimmernde Gesicht der Sterbenden ab. Ihre Augen sind unter den schweren, faltigen Lidern fast geschlossen; ihr Profil ist rein und klar. Der alte José Posener war ein gütiger, liebevoller, strenger Vater, der mit seinen eigensinnigen, begabten, aber mit ihren überspannten Erwartungen ans Leben überforderten Kindern sicherlich seine liebe Not hatte. Das Phänomen ist möglicherweise typisch für eine jüdische Familie jener Zeit. Der alte Herr hatte die Grundlage gelegt, seine Kinder auf die höhere Schule geschickt, doch er selbst war kein gebildeter Mann. Die Kinder, die ihr Leben auf so viel höherem Niveau begannen, waren ehrgeizig. Julio, der jüngere Bruder meines Vaters, spielte virtuos, doch vollkommen gefühllos Klavier und konnte auch ziemlich gut zeichnen, musste aber nach Brasilien gehen, um sich um das Juwelengeschäft zu kümmern. Louis, der Lieblingsbruder meines Vaters, starb als junger Mann an Tuberkulose. Der jüngste Sohn George versuchte sich im Malen und in der Bildhauerei und beschloss dann, Schauspieler zu werden, wobei er sich als einmalig erfolglos erwies. Niedergeschlagen und eifersüchtig auf das einzig wahre Talent in der Familie, meinen Vater Moritz, musste er sich schliesslich mit dem drögen Beruf eines Zahnarztes begnügen. Mathilde, das einzige Mädchen unter den Geschwistern, heiratete zu früh; die Ehe wurde wieder geschieden. Und als mein Vater am Ende auch noch reich einheiratete, bekam der Groll, den seine Brüder gegen den einen hegten, der es im Leben zu etwas gebracht hatte, neue Nahrung. 2004, Hardcover/gebunden, wie neu, ca. 22 x 14,5 cm, 800g, 493 Seiten, Internationaler Versand, Banküberweisung.
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9783886807642 - POSENER, Julius: Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hrsg. von Alan
POSENER, Julius

Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hrsg. von Alan (2004)

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ISBN: 9783886807642 bzw. 3886807649, in Deutsch, 493 Seiten, Siedler, gebraucht, guter Zustand, mit Einband.

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Der Nationalsozialismus vertrieb die drei an unterschiedliche Enden der Welt: Karl, den Ältesten, ins Exil nach Australien, wo er schon 1946 starb; Ludwig nach Palästina; und Julius über England nach Malaysia. - In Kuala Lumpur, wo er Architektur lehrte, schrieb Julius Posener in der ihm noch fremden englischen Sprache seine Erinnerungen. Sie sind schärfer, direkter - und bitterer - als die Erinnerungen, die er im Alter in seiner Muttersprache verfasste und 1990 unter dem Titel »Fast so alt wie das Jahrhundert« veröffentlichte. - Es scheint, als würde das Brennglas des Exils Details vergrössern - die kindliche Schutzlosigkeit, die erwachende Sexualität, den eigenen Antisemitismus und die drohende Ausgrenzung - und so das eigene Leben wie die Brüche der Zeit umso plastischer hervortreten lassen. Das Buch ist auch - heimlich niedergeschrieben in der kolonialen Gesellschaft, die weder von Deutschen noch von Juden etwas wissen wollte - eine verstohlene Liebeserklärung an die verlorene Heimat. - "Poseners Erzählung von den geistigen Kämpfen in der Familie, der Schule und in der Jugendbewegung, seine freimütige Analyse der zerissenen Seelenlandschaft im bürgerlichen Judentum gehört zum Erhellendsten, was über die Inkubationszeit der deutschen Katastrophe von 1933 geschrieben worden ist. Seine tief ins Intime, auch Erotische greifende Analyse des Generationsproblems erinnert an ähnliche Passagen in Franz Kafkas Lebenszeugnissen." - Julius Posener (1904-1996) studierte Architektur an der Technischen Hochschule Berlin. 1935 Emigration nach Palästina, 1941 freiwillige Meldung zur britischen Armee, wurde 1946 britischer Staatsbürger. Nach Jahren der Lehrtätigkeit in London und Kuala Lumpur 1961 Berufung an den Lehrstuhl für Baugeschichte der Hochschule der Künste in Berlin. Fachveröffentlichungen. - Leseprobe: Ankunft, Abkunft Meine frühesten Erinnerungen sind traurig und beängstigend. Nach den ersten, flüchtigen und in meinem Gedächtnis nur schemenhaft erhaltenen Momenten bewusster Wahrnehmung, die nur Bewegung enthüllen - ich werde in schwindelerregende Höhen gehoben, im Gleitflug eine Treppe hinuntergetragen, zwischen die Kissen eines übergrossen Kinderwagens gestopft oder auf einen turmhohen Kinderstuhl gesetzt -, ist meine früheste, halbwegs deutliche Erinnerung diese: Jemand hält mich im Arm, ich glaube, es ist mein Vater, doch dann werde ich in andere Arme weitergereicht. Die Szene spielt sich im Esszimmer ab, und auf dem Tisch steht eine längliche Schale mit Operationsbesteck. Ich werde getröstet: Man hat mir die Mandeln herausgenommen. Es gibt keine Erinnerung an Schmerzen, nur an etwas Unverstandenes und Trauriges. Die nächste Erinnerung ist deutlicher. Ich stehe in einem Zimmer mit hoher Decke und einem Fussboden aus breiten, unregelmässigen Dielen, und dieser ist direkt unter mir besudelt. Mein Hinterteil fühlt sich klebrig an, nach warmem, weichem Kot. Ich weine. Jemand, ich glaube, es ist das Mädchen - aber meine Mutter muss kurz darauf dazugekommen sein -, eilt zu mir und sagt, ich müsse mich nicht schämen, es sei nicht meine Schuld. Die dritte Erinnerung stammt von meinem vierten Geburtstag. Einige Zeit zuvor hatten meine beiden Brüder, die drei und sechs Jahre älter waren als ich, heimlich an einer Überraschung für mich gearbeitet. An meinem grossen Tag warte ich im dunklen Korridor vor dem Geburtstagszimmer, wo ich durch einen Spalt in der Tür das Flackern des Lebenslichts sehen kann. Bald darauf werde ich in den Raum geführt und schaue erwartungsvoll zum Gabentisch hinauf. Mein ältester Bruder will mir das Modell eines Zeppelins zeigen, das er für mich gebastelt hat, aber er gerät damit an die Kerzenflamme, und das Ding fängt sofort Feuer. Schreiend renne ich aus dem Zimmer und in die Küche, wo sich alles um mich schart, um mich zu trösten. Trotz meines unvergessenen Entsetzens taten mir meine Brüder, deren Werk und die Freude, die sie mir machen wollten, zerstört worden waren, leid. Der Hangar aus Pappe, den sie für den Zeppelin gebaut hatten, blieb für viele Jahre Bestandteil unseres Spielzeugs, aber ich konnte ihn nie ansehen oder berühren, ohne einen leichten, ehrfürchtigen Schauer angesichts der damit verbundenen Tragödie zu verspüren. Jahre später, als ich über die Katastrophe von Graf Zeppelins Luftschiff in Echterdingen las, verknüpfte ich das Ereignis eng mit dem, was am Gabentisch meines vierten Geburtstags geschehen war. Danach stellen sich friedlichere Erinnerungen ein: Sie handeln von Spaziergängen an der Hand eines Dienstmädchens, zusammen mit meinem Bruder Ludwig, Karl war zu alt dafür. Wir gehen durch die Strassen der Gartenvorstadt von Berlin, in der wir lebten. Ich sehe - und rieche - noch ganz deutlich braunes Laub, das ich durch die Lücken am Fusse der gusseisernen Zäune erkennen konnte. Ich weiss nicht, warum mir gerade diese Erinnerung so viel bedeutet, aber ich gebe mich ihr noch heute gerne hin. Wir wohnten damals in der Holbeinstrasse in Lichterfelde in einem düsteren und weitläufigen Haus mit riesigen Kachelöfen. In der Abenddämmerung, besonders im Winter, wurde das Gaslicht oder eine Petroleumlampe angezündet, und ich weiss noch, dass ich mich vor dem Geruch des ausströmenden Petroleums in dem Augenblick, bevor die Flamme hell wurde, und auch vor dem gelegentlichen Zischen des Gases fürchtete. Das Haus stand in einem grossen moderigen Garten mit einem Springbrunnen davor. Einmal trank ich Wasser aus diesem Brunnen, indem ich es mit meiner Spielzeugtrompete ansaugte, und wurde streng gerügt, als ich später Bauchschmerzen bekam und meine Sünde beichtete. Immerhin gab man mir daraufhin ein alkoholisches Tonikum, das mir sehr gut schmeckte. Richtigen Ärger bekam ich, als Willi, der Sohn des Gärtners, ein seltsames Spiel mit mir spielte. Ich musste mich auf einen Gartentisch legen und ein "krankes Häschen" sein, während er der Doktor war und meinen Penis hielt, um mich zu heilen. Als wir ertappt wurden, endete diese "Freundschaft" mit dem "schmutzigen Jungen". Mir war damals vollkommen bewusst, dass man so etwas nicht tut, und aus diesem Grund - und anderen Gründen - war das Gefühl, das ich während unserer Treffen hatte, das einer süssen und schamvollen Hingabe. Kurz darauf machte ich eine neue Entdeckung, als ich im Garten an einem Seil hinaufkletterte, aber diesmal fühlte ich mich vollkommen unschuldig und nannte die Erfahrung, die ich oft wiederholte, "meine Lieblingsübung". In unserem neuen Haus brachte ich sie sogar der Gärtnerstochter bei, während ich sie meinem älteren Bruder irgendwie nicht zeigen wollte. Ich entwickelte bereits sehr früh ein Ichbewusstsein und liebte die Geschichten über mich, die mir meine Eltern aus den Jahren erzählten, an die ich mich nicht erinnerte, zum Beispiel, wie ich innerhalb von drei Tagen mein Lispeln überwunden hatte, ebenso wie meinen "Hackbiss", bei dem ich meine Zähne aufeinandersetzte, wenn ich den Mund schloss, anstatt den Unterkiefer unter den Oberkiefer rutschen zu lassen. Ich entsinne mich tatsächlich, wie ich mit unermüdlicher Energie die korrekte Haltung übte und dafür oft gelobt wurde. Meine erste Bekanntschaft mit meinem Spiegelbild war schmerzlich; doch es gelang mir, mich davon zu überzeugen, dass ich ein aussergewöhnliches Gesicht haben musste, denn die alten Tanten oder anderen alten Damen, die uns besuchten oder die wir auf der Strasse trafen, unterliessen es nie, meinen ernsten Gesichtsausdruck zu erwähnen, und eine sagte einmal: "Da kommt ja der junge Moltke." Wie stolz mich diese Bemerkung machte, kann man daran erkennen, dass ich mich noch heute daran erinnere. Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich zu Höherem berufen war. Dennoch sind meine Erinnerungen an diese frühesten Kindheitsjahre nicht angenehm. Wenn ich ernst aussah, dann lag es nicht daran, dass ich tiefen Gedanken nachhing, wie manche Leute offenbar glaubten. In Wirklichkeit war ich meistens verträumt, voller Furcht, traurig und gelangweilt, und das Haus, in dem wir lebten, mit seinen vielen dunklen Ecken, den hohen Fenstern, den nackten Fussböden und den verschnörkelten Möbeln von erdrückender Grösse habe ich nie gemocht. Insbesondere die Standuhr versetzte mich in panische Angst. Sie hatte gedrehte Säulen, die das Uhrwerk stützten, und sehr schwere Messinggewichte. Bevor sie mit einem besonders lauten und harten Ton die volle Stunde anschlug, schien sie erst einmal Luft zu holen, wobei sie ein Geräusch machte, das wie "Tiffteliff" klang. Das hörte sich dann so an: Tiffteliff, gong, gong, gong, gong. Ich nannte sie, warum weiss ich nicht, die "Ofenuhr", und diese Ofenuhr verwandelte sich in die mörderische Lokomotive oder (mit den gedrehten Säulen als Stosszähnen) in den wütenden Elefanten meiner Alpträume, in denen sie mich langsam aber mit tödlicher Sicherheit in eine geheimnisvolle Finsternis hinein verfolgten. Ich hielt mich nicht einmal bei Tag gern in der Nähe der "Ofenuhr" auf und war froh, dass sich mein Platz am Esstisch auf der gegenüberliegenden Seite befand, wo ich sie im Auge behalten konnte und ihre Gegenwart nicht im Rücken spüren musste. Eine grosse Veränderung trat in meinem sechsten Lebensjahr ein, 1910, als meine Eltern nicht weit von der Holbeinstrasse inmitten herrlicher Kastanien ein neues Haus auf einem grossen Eckgrundstück bauen liessen. Kastanienbäume bedeuten für mich noch heute das neue, das geliebte Heim (das erste Haus war trostlos gewesen), die erste Liebe, erste Musik, meine ersten eigenen Gedichte. Ich habe dieselben Bäume fünfzehn Jahre lang vor Augen gehabt, meine gesamte bewusste Kindheit und Jugend hindurch. Anfangs war das neue Grundstück in der Karlstrasse nichts als ein herrlicher Spielplatz, wo wir auf Leitern klettern, über Schubkarren stolpern und uns im hohen Gras verkriechen konnten. Der Bauplatz war sonnig und verwildert, ein Jungenparadies. Natürlich begannen wir beide, Ludwig und ich, sobald wir eingezogen waren, nach der "Holbeinstrasse" zu quengeln. "Es war so gemütlich da", jammerten wir. Trotzdem: Im neuen Haus gab es elektrisches, gelbliches Licht, was nun wirklich anheimelnder war als das kalte weisse Gaslicht im alten Heim. Es war zentralgeheizt, und in jedem Zimmer standen Heizkörper, die noch nach frischer Farbe rochen. Die in den Empfangsräumen hatten eine Holzverkleidung, die oben mit einem Bronzegitter abgedeckt war, auf dem man im Winter sitzen und sich den Hintern wärmen konnte. Wir hatten Einbauschränke in den Schlafzimmern, und die schwerfälligen Schränke aus dem alten Haus hatte mein Vater alle blau gestrichen und wie die blauen und cremefarbenen Türen im Haus mit Blumen und Vögeln im "Bauernstil" verziert. In dem riesigen Dachgeschoss befand sich das Atelier meines Vaters, und darüber war sogar noch Platz für einen hohen Dachboden. Dieses Dachgeschoss war aussen in einem dunkelbraunen Farbton rauhverputzt, weshalb unser Haus von den Jungen in unserer Strasse "Schokoladenvilla" genannt wurde. Es war ein modernes Haus, genauer gesagt, ein Haus im "englischen Landhausstil" - geräumig, sonnig und bequem -, und stand in einem formstreng angelegten Garten mit weissen Gartenbänken, breiten Blumenbeeten und einer Vogeltränke. Auf den Rasenflächen zu beiden Seiten des Gartenpfades in der Mitte wuchsen Apfelbäume, Quitten-, Birn- und Kirschbäume. Am Zaun zum Nachbargrundstück verlief ein langes Beet, in dem Erdbeeren und Stachelbeeren angepflanzt waren, während ein Spalier aus Pfirsich- und Aprikosenbäumen den Zaun verdeckte. Die Obstbäume waren bei unserem Einzug gesetzt worden, und wir konnten zusehen, wie sie zu kräftigen, prächtigen Bäumen heranwuchsen, die mit jedem Jahr eine bessere Ernte erbrachten. Hinter dem Haus und entlang der langen Strassenfront standen blühende Büsche, ideal zum Versteckspielen. Es dauerte nicht einmal einen Monat, bis wir unseren täglichen sehnsüchtigen Spaziergang zur Holbeinstrasse aufgegeben und uns in unserem neuen Heim glücklich eingelebt hatten. Unser Kinderzimmer, ein riesengrosser Raum mit einem Bodenbelag aus Linoleum, hatte eine Loggia, eine Ecke, in der wir Schularbeiten machen konnten, und einen Kaufmannsladen. Ludwig und ich schliefen noch in weissgestrichenen Kinderbetten aus Eisen. Ausserdem war unser Zimmer mit einem ebenfalls eisernen Wäscheständer und zwei grossen blauen Kleiderschränken möbliert. In der Mitte stand ein Tisch mit Stühlen, es blieb aber noch genügend Platz auf dem Fussboden, damit wir mit Zinnsoldaten oder unserer Eisenbahn spielen konnten. Zwei Personen beeindruckten mich sehr stark während der Bauzeit und der ersten Wochen im neuen Haus. In erster Linie der Architekt. Fritz Crzellitzer war ein kleiner Mann mit dunklem Haar, einer kurzen, leicht gebogenen Nase und lustigen, braunen Augen. Wenn er auf der Baustelle erschien, seine Entwürfe ausrollte und dem Polier Anweisungen erteilte, sah ich einen Meister in Aktion. Dies, fand ich, war ein Beruf für einen Mann, der alles überschaute, ein sehr männlicher Beruf. Crzellitzer spielte Klavier, und er spielte wie ein Architekt: kräftig, strukturiert, gesetzt. Er malte auch, und auch dies tat er wie ein Architekt. Für mich wurde er zu "dem Architekten" schlechthin, und dieser Beruf, verkörpert in seiner Person und seinem Werk, unserem neuen Haus, hat mir seitdem stets Hochachtung eingeflösst. Crzellitzer gehörte zu den treibenden Kräften jener grossen Befreiungsbewegung, der modernen Architektur, von deren Ergebnissen ich mich plötzlich umgeben sah und die mich die muffigen, düsteren Häuser wie das, in dem wir vorher gewohnt hatten, verachten liess. Die andere Person, die sich ebenso aktiv an dem grossen Unternehmen beteiligt hatte, war mein Vater. Er hatte dem Architekten die ganze Zeit über die Schulter geschaut und sogar das eine oder andere Detail im Entwurf verändert und, wie er behauptete, verbessert. All die aufgemalten Vögel und Blumen an den Türen waren, wie erwähnt, sein Werk, auch der kleine Vogel, der gerade einen Klecks fallen liess und auf die Gästetoilette verwies. Er betrachtete das Haus als seine eigene Schöpfung und war mit dem Resultat äusserst zufrieden. Mein Vater Moritz Posener war ein moderner Maler. Seine Lebensgeschichte - er erzählte uns furchtbar gern von seinen frühen Jahren - scheint mir exemplarisch zu sein für die Abkehr von der Dunkelheit des vorangegangenen Jahrhunderts und die Hinwendung zum strahlenden Licht des zwanzigsten. Vater hatte keine leichte Kindheit gehabt. Mein Grossvater Josef muss ein aussergewöhnlicher Mann gewesen sein. Er stammte aus Wirsitz in der Provinz Posen, wo er eine Schneiderlehre absolviert hatte, bevor er sich zu Fuss oder mit dem Pferdewagen, wenn einer anhielt und ihn mitnahm, nach Berlin aufmachte, um dort als Schneidergeselle zu arbeiten. Von Berlin zog er zunächst weiter nach Paris und einige Jahre später nach London, wo die besten Herrenschneider sassen, bei denen man damals lernen konnte. Dort wurde er Kompagnon eines anderen jüdischen Schneiders, der dann nach New York auswanderte und ihn aufforderte, ihm zu folgen. Als mein Grossvater dort auf einem Segelschiff ankam, erfuhr er, dass sein Partner nach Rio de Janeiro weitergereist war und ihn nun dort treffen wollte. Wieder schiffte er sich ein. Als sein Schoner im Golf von Mexiko in eine wochenlange Flaute geriet, wäre er vor Hunger und Durst fast gestorben, schliesslich gelang es ihm aber, Rio zu erreichen. Die beiden gaben die Schneiderei bald auf und fingen an, mit Edelsteinen zu handeln, die sie auf langen Reisen durch den Dschungel mit Maultieren zu den Haziendas beförderten. Mein Grossvater machte ein kleines Vermögen und beschloss, in seine deutsche Heimat zurückzukehren. Er war auf dem Weg durch die dunklen engen Gassen, die zum Hafen hinunterführten, als er von Räubern überfallen wurde, die ihm den grössten Teil seiner Habe abnahmen. Danach musste er weitere fünf Jahre durchs Land ziehen und Edelsteine verkaufen, bis er sich wieder saniert hatte. Diesmal gelangte er ohne Zwischenfall nach Europa. In Den Haag heiratete er Cato van Meerloo und liess sich mit ihr in Berlin nieder, ein Mann mit bescheidenen Mitteln, die im wesentlichen aus den Einnahmen eines in Rio zurückgelassenen Juwelierladens stammten. Mein Grossvater starb Jahre vor meiner Geburt, aber ich habe sein brasilianisches Tagebuch gelesen und eine Reihe von Porträts gesehen, die mein Vater von ihm gemalt hat, speziell eines im Stil eines Meisters der Holbein-Schule mit dem Titel "Anno Aetatis Suae ..." Es zeigt das Gesicht eines Juden, der hart gearbeitet hat, eines Selfmademans, der aber selbst in seinen jungen Jahren, als er sich noch nach oben kämpfte, eine natürliche Würde besessen haben muss. Seine hellblauen Augen waren das jüdischste an seinem Gesicht. Sie hatten Leid gesehen und erfahren, sie drückten Verständnis und Mitgefühl aus, sie hatten alles überwunden. Meine Grossmutter ist sogar noch früher gestorben. Auch sie nimmt für mich nur durch die Geschichten meines Vaters Gestalt an und in einem Bild, das er einige Tage nach ihrem Tod gemalt hat: Man sieht sie an einem Vorfrühlingstag an einem geöffneten Fenster im Sterben liegen. Der Hintergrund mit dem Rasen und den kahlen Bäumen ist dunkel, und davor zeichnet sich im Halbprofil das blass schimmernde Gesicht der Sterbenden ab. Ihre Augen sind unter den schweren, faltigen Lidern fast geschlossen; ihr Profil ist rein und klar. Der alte José Posener war ein gütiger, liebevoller, strenger Vater, der mit seinen eigensinnigen, begabten, aber mit ihren überspannten Erwartungen ans Leben überforderten Kindern sicherlich seine liebe Not hatte. Das Phänomen ist möglicherweise typisch für eine jüdische Familie jener Zeit. Der alte Herr hatte die Grundlage gelegt, seine Kinder auf die höhere Schule geschickt, doch er selbst war kein gebildeter Mann. Die Kinder, die ihr Leben auf so viel höherem Niveau begannen, waren ehrgeizig. Julio, der jüngere Bruder meines Vaters, spielte virtuos, doch vollkommen gefühllos Klavier und konnte auch ziemlich gut zeichnen, musste aber nach Brasilien gehen, um sich um das Juwelengeschäft zu kümmern. Louis, der Lieblingsbruder meines Vaters, starb als junger Mann an Tuberkulose. Der jüngste Sohn George versuchte sich im Malen und in der Bildhauerei und beschloss dann, Schauspieler zu werden, wobei er sich als einmalig erfolglos erwies. Niedergeschlagen und eifersüchtig auf das einzig wahre Talent in der Familie, meinen Vater Moritz, musste er sich schliesslich mit dem drögen Beruf eines Zahnarztes begnügen. Mathilde, das einzige Mädchen unter den Geschwistern, heiratete zu früh; die Ehe wurde wieder geschieden. Und als mein Vater am Ende auch noch reich einheiratete, bekam der Groll, den seine Brüder gegen den einen hegten, der es im Leben zu etwas gebracht hatte, neue Nahrung. 2004, Hardcover/gebunden, wie neu, ca. 22 x 14,5 cm, 800g, 493 Seiten, Internationaler Versand, Banküberweisung.
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9783886807642 - POSENER, Julius: Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hrsg. von Alan
POSENER, Julius

Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hrsg. von Alan (2004)

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ORIGINAL VERPACKT - JULIUS POSENER - HEIMLICHE ERINNERUNGEN. IN DEUTSCHLAND 1904 BIS 1933 - Mit einem Anhang: In Germany again (1948) - Aus dem Englischen von Ruth Keen - Hrsg. von Alan Posener - SIEDLER VERLAG - 2004 - 493 SEITEN m. s/w-Abb. - FORMAT ca. 22 x 14,5 cm - ISBN 3886807649 bzw. 9783886807642 - GEBUNDENES EXEMPLAR MIT SCHUTZUMSCHLAG WIE ABGEBILDET - DAS EXEMPLAR IST UNBENUTZT, UNGELESEN UND NOCH ORIGINAL VERPACKT (IN FOLIE EINGESCHWEISST) - FOLIE GERINGFÜGIG OFFEN - SORGFÄLTIGER VERSAND - LIEFERZEIT/ BRD ca. 7 TAGE nach Zahlungseingang (manchmal schneller) - BITTE BEACHTEN: KEIN VERSAND AN PACKSTATIONEN - ANFRAGEN WERDEN GERN BEANTWORTET! (a/b - j9) - Heimliche Erinnerungen an Deutschland Das Umschlagbild zeigt einen Vater Anfang des vergangenen Jahrhunderts mit seinen drei Söhnen: Karl, Ludwig und - als jüngstem - Julius Posener. Das Bild strahlt die Sicherheit und Zuversicht einer grossbürgerlichen jüdischen Familie aus. Eine trügerische Sicherheit. Der Nationalsozialismus vertrieb die drei an unterschiedliche Enden der Welt: Karl, den Ältesten, ins Exil nach Australien, wo er schon 1946 starb; Ludwig nach Palästina; und Julius über England nach Malaysia. - In Kuala Lumpur, wo er Architektur lehrte, schrieb Julius Posener in der ihm noch fremden englischen Sprache seine Erinnerungen. Sie sind schärfer, direkter - und bitterer - als die Erinnerungen, die er im Alter in seiner Muttersprache verfasste und 1990 unter dem Titel »Fast so alt wie das Jahrhundert« veröffentlichte. - Es scheint, als würde das Brennglas des Exils Details vergrössern - die kindliche Schutzlosigkeit, die erwachende Sexualität, den eigenen Antisemitismus und die drohende Ausgrenzung - und so das eigene Leben wie die Brüche der Zeit umso plastischer hervortreten lassen. Das Buch ist auch - heimlich niedergeschrieben in der kolonialen Gesellschaft, die weder von Deutschen noch von Juden etwas wissen wollte - eine verstohlene Liebeserklärung an die verlorene Heimat. - "Poseners Erzählung von den geistigen Kämpfen in der Familie, der Schule und in der Jugendbewegung, seine freimütige Analyse der zerissenen Seelenlandschaft im bürgerlichen Judentum gehört zum Erhellendsten, was über die Inkubationszeit der deutschen Katastrophe von 1933 geschrieben worden ist. Seine tief ins Intime, auch Erotische greifende Analyse des Generationsproblems erinnert an ähnliche Passagen in Franz Kafkas Lebenszeugnissen." - Julius Posener (1904-1996) studierte Architektur an der Technischen Hochschule Berlin. 1935 Emigration nach Palästina, 1941 freiwillige Meldung zur britischen Armee, wurde 1946 britischer Staatsbürger. Nach Jahren der Lehrtätigkeit in London und Kuala Lumpur 1961 Berufung an den Lehrstuhl für Baugeschichte der Hochschule der Künste in Berlin. Fachveröffentlichungen. - Leseprobe: Ankunft, Abkunft Meine frühesten Erinnerungen sind traurig und beängstigend. Nach den ersten, flüchtigen und in meinem Gedächtnis nur schemenhaft erhaltenen Momenten bewusster Wahrnehmung, die nur Bewegung enthüllen - ich werde in schwindelerregende Höhen gehoben, im Gleitflug eine Treppe hinuntergetragen, zwischen die Kissen eines übergrossen Kinderwagens gestopft oder auf einen turmhohen Kinderstuhl gesetzt -, ist meine früheste, halbwegs deutliche Erinnerung diese: Jemand hält mich im Arm, ich glaube, es ist mein Vater, doch dann werde ich in andere Arme weitergereicht. Die Szene spielt sich im Esszimmer ab, und auf dem Tisch steht eine längliche Schale mit Operationsbesteck. Ich werde getröstet: Man hat mir die Mandeln herausgenommen. Es gibt keine Erinnerung an Schmerzen, nur an etwas Unverstandenes und Trauriges. Die nächste Erinnerung ist deutlicher. Ich stehe in einem Zimmer mit hoher Decke und einem Fussboden aus breiten, unregelmässigen Dielen, und dieser ist direkt unter mir besudelt. Mein Hinterteil fühlt sich klebrig an, nach warmem, weichem Kot. Ich weine. Jemand, ich glaube, es ist das Mädchen - aber meine Mutter muss kurz darauf dazugekommen sein -, eilt zu mir und sagt, ich müsse mich nicht schämen, es sei nicht meine Schuld. Die dritte Erinnerung stammt von meinem vierten Geburtstag. Einige Zeit zuvor hatten meine beiden Brüder, die drei und sechs Jahre älter waren als ich, heimlich an einer Überraschung für mich gearbeitet. An meinem grossen Tag warte ich im dunklen Korridor vor dem Geburtstagszimmer, wo ich durch einen Spalt in der Tür das Flackern des Lebenslichts sehen kann. Bald darauf werde ich in den Raum geführt und schaue erwartungsvoll zum Gabentisch hinauf. Mein ältester Bruder will mir das Modell eines Zeppelins zeigen, das er für mich gebastelt hat, aber er gerät damit an die Kerzenflamme, und das Ding fängt sofort Feuer. Schreiend renne ich aus dem Zimmer und in die Küche, wo sich alles um mich schart, um mich zu trösten. Trotz meines unvergessenen Entsetzens taten mir meine Brüder, deren Werk und die Freude, die sie mir machen wollten, zerstört worden waren, leid. Der Hangar aus Pappe, den sie für den Zeppelin gebaut hatten, blieb für viele Jahre Bestandteil unseres Spielzeugs, aber ich konnte ihn nie ansehen oder berühren, ohne einen leichten, ehrfürchtigen Schauer angesichts der damit verbundenen Tragödie zu verspüren. Jahre später, als ich über die Katastrophe von Graf Zeppelins Luftschiff in Echterdingen las, verknüpfte ich das Ereignis eng mit dem, was am Gabentisch meines vierten Geburtstags geschehen war. Danach stellen sich friedlichere Erinnerungen ein: Sie handeln von Spaziergängen an der Hand eines Dienstmädchens, zusammen mit meinem Bruder Ludwig, Karl war zu alt dafür. Wir gehen durch die Strassen der Gartenvorstadt von Berlin, in der wir lebten. Ich sehe - und rieche - noch ganz deutlich braunes Laub, das ich durch die Lücken am Fusse der gusseisernen Zäune erkennen konnte. Ich weiss nicht, warum mir gerade diese Erinnerung so viel bedeutet, aber ich gebe mich ihr noch heute gerne hin. Wir wohnten damals in der Holbeinstrasse in Lichterfelde in einem düsteren und weitläufigen Haus mit riesigen Kachelöfen. In der Abenddämmerung, besonders im Winter, wurde das Gaslicht oder eine Petroleumlampe angezündet, und ich weiss noch, dass ich mich vor dem Geruch des ausströmenden Petroleums in dem Augenblick, bevor die Flamme hell wurde, und auch vor dem gelegentlichen Zischen des Gases fürchtete. Das Haus stand in einem grossen moderigen Garten mit einem Springbrunnen davor. Einmal trank ich Wasser aus diesem Brunnen, indem ich es mit meiner Spielzeugtrompete ansaugte, und wurde streng gerügt, als ich später Bauchschmerzen bekam und meine Sünde beichtete. Immerhin gab man mir daraufhin ein alkoholisches Tonikum, das mir sehr gut schmeckte. Richtigen Ärger bekam ich, als Willi, der Sohn des Gärtners, ein seltsames Spiel mit mir spielte. Ich musste mich auf einen Gartentisch legen und ein "krankes Häschen" sein, während er der Doktor war und meinen Penis hielt, um mich zu heilen. Als wir ertappt wurden, endete diese "Freundschaft" mit dem "schmutzigen Jungen". Mir war damals vollkommen bewusst, dass man so etwas nicht tut, und aus diesem Grund - und anderen Gründen - war das Gefühl, das ich während unserer Treffen hatte, das einer süssen und schamvollen Hingabe. Kurz darauf machte ich eine neue Entdeckung, als ich im Garten an einem Seil hinaufkletterte, aber diesmal fühlte ich mich vollkommen unschuldig und nannte die Erfahrung, die ich oft wiederholte, "meine Lieblingsübung". In unserem neuen Haus brachte ich sie sogar der Gärtnerstochter bei, während ich sie meinem älteren Bruder irgendwie nicht zeigen wollte. Ich entwickelte bereits sehr früh ein Ichbewusstsein und liebte die Geschichten über mich, die mir meine Eltern aus den Jahren erzählten, an die ich mich nicht erinnerte, zum Beispiel, wie ich innerhalb von drei Tagen mein Lispeln überwunden hatte, ebenso wie meinen "Hackbiss", bei dem ich meine Zähne aufeinandersetzte, wenn ich den Mund schloss, anstatt den Unterkiefer unter den Oberkiefer rutschen zu lassen. Ich entsinne mich tatsächlich, wie ich mit unermüdlicher Energie die korrekte Haltung übte und dafür oft gelobt wurde. Meine erste Bekanntschaft mit meinem Spiegelbild war schmerzlich; doch es gelang mir, mich davon zu überzeugen, dass ich ein aussergewöhnliches Gesicht haben musste, denn die alten Tanten oder anderen alten Damen, die uns besuchten oder die wir auf der Strasse trafen, unterliessen es nie, meinen ernsten Gesichtsausdruck zu erwähnen, und eine sagte einmal: "Da kommt ja der junge Moltke." Wie stolz mich diese Bemerkung machte, kann man daran erkennen, dass ich mich noch heute daran erinnere. Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich zu Höherem berufen war. Dennoch sind meine Erinnerungen an diese frühesten Kindheitsjahre nicht angenehm. Wenn ich ernst aussah, dann lag es nicht daran, dass ich tiefen Gedanken nachhing, wie manche Leute offenbar glaubten. In Wirklichkeit war ich meistens verträumt, voller Furcht, traurig und gelangweilt, und das Haus, in dem wir lebten, mit seinen vielen dunklen Ecken, den hohen Fenstern, den nackten Fussböden und den verschnörkelten Möbeln von erdrückender Grösse habe ich nie gemocht. Insbesondere die Standuhr versetzte mich in panische Angst. Sie hatte gedrehte Säulen, die das Uhrwerk stützten, und sehr schwere Messinggewichte. Bevor sie mit einem besonders lauten und harten Ton die volle Stunde anschlug, schien sie erst einmal Luft zu holen, wobei sie ein Geräusch machte, das wie "Tiffteliff" klang. Das hörte sich dann so an: Tiffteliff, gong, gong, gong, gong. Ich nannte sie, warum weiss ich nicht, die "Ofenuhr", und diese Ofenuhr verwandelte sich in die mörderische Lokomotive oder (mit den gedrehten Säulen als Stosszähnen) in den wütenden Elefanten meiner Alpträume, in denen sie mich langsam aber mit tödlicher Sicherheit in eine geheimnisvolle Finsternis hinein verfolgten. Ich hielt mich nicht einmal bei Tag gern in der Nähe der "Ofenuhr" auf und war froh, dass sich mein Platz am Esstisch auf der gegenüberliegenden Seite befand, wo ich sie im Auge behalten konnte und ihre Gegenwart nicht im Rücken spüren musste. Eine grosse Veränderung trat in meinem sechsten Lebensjahr ein, 1910, als meine Eltern nicht weit von der Holbeinstrasse inmitten herrlicher Kastanien ein neues Haus auf einem grossen Eckgrundstück bauen liessen. Kastanienbäume bedeuten für mich noch heute das neue, das geliebte Heim (das erste Haus war trostlos gewesen), die erste Liebe, erste Musik, meine ersten eigenen Gedichte. Ich habe dieselben Bäume fünfzehn Jahre lang vor Augen gehabt, meine gesamte bewusste Kindheit und Jugend hindurch. Anfangs war das neue Grundstück in der Karlstrasse nichts als ein herrlicher Spielplatz, wo wir auf Leitern klettern, über Schubkarren stolpern und uns im hohen Gras verkriechen konnten. Der Bauplatz war sonnig und verwildert, ein Jungenparadies. Natürlich begannen wir beide, Ludwig und ich, sobald wir eingezogen waren, nach der "Holbeinstrasse" zu quengeln. "Es war so gemütlich da", jammerten wir. Trotzdem: Im neuen Haus gab es elektrisches, gelbliches Licht, was nun wirklich anheimelnder war als das kalte weisse Gaslicht im alten Heim. Es war zentralgeheizt, und in jedem Zimmer standen Heizkörper, die noch nach frischer Farbe rochen. Die in den Empfangsräumen hatten eine Holzverkleidung, die oben mit einem Bronzegitter abgedeckt war, auf dem man im Winter sitzen und sich den Hintern wärmen konnte. Wir hatten Einbauschränke in den Schlafzimmern, und die schwerfälligen Schränke aus dem alten Haus hatte mein Vater alle blau gestrichen und wie die blauen und cremefarbenen Türen im Haus mit Blumen und Vögeln im "Bauernstil" verziert. In dem riesigen Dachgeschoss befand sich das Atelier meines Vaters, und darüber war sogar noch Platz für einen hohen Dachboden. Dieses Dachgeschoss war aussen in einem dunkelbraunen Farbton rauhverputzt, weshalb unser Haus von den Jungen in unserer Strasse "Schokoladenvilla" genannt wurde. Es war ein modernes Haus, genauer gesagt, ein Haus im "englischen Landhausstil" - geräumig, sonnig und bequem -, und stand in einem formstreng angelegten Garten mit weissen Gartenbänken, breiten Blumenbeeten und einer Vogeltränke. Auf den Rasenflächen zu beiden Seiten des Gartenpfades in der Mitte wuchsen Apfelbäume, Quitten-, Birn- und Kirschbäume. Am Zaun zum Nachbargrundstück verlief ein langes Beet, in dem Erdbeeren und Stachelbeeren angepflanzt waren, während ein Spalier aus Pfirsich- und Aprikosenbäumen den Zaun verdeckte. Die Obstbäume waren bei unserem Einzug gesetzt worden, und wir konnten zusehen, wie sie zu kräftigen, prächtigen Bäumen heranwuchsen, die mit jedem Jahr eine bessere Ernte erbrachten. Hinter dem Haus und entlang der langen Strassenfront standen blühende Büsche, ideal zum Versteckspielen. Es dauerte nicht einmal einen Monat, bis wir unseren täglichen sehnsüchtigen Spaziergang zur Holbeinstrasse aufgegeben und uns in unserem neuen Heim glücklich eingelebt hatten. Unser Kinderzimmer, ein riesengrosser Raum mit einem Bodenbelag aus Linoleum, hatte eine Loggia, eine Ecke, in der wir Schularbeiten machen konnten, und einen Kaufmannsladen. Ludwig und ich schliefen noch in weissgestrichenen Kinderbetten aus Eisen. Ausserdem war unser Zimmer mit einem ebenfalls eisernen Wäscheständer und zwei grossen blauen Kleiderschränken möbliert. In der Mitte stand ein Tisch mit Stühlen, es blieb aber noch genügend Platz auf dem Fussboden, damit wir mit Zinnsoldaten oder unserer Eisenbahn spielen konnten. Zwei Personen beeindruckten mich sehr stark während der Bauzeit und der ersten Wochen im neuen Haus. In erster Linie der Architekt. Fritz Crzellitzer war ein kleiner Mann mit dunklem Haar, einer kurzen, leicht gebogenen Nase und lustigen, braunen Augen. Wenn er auf der Baustelle erschien, seine Entwürfe ausrollte und dem Polier Anweisungen erteilte, sah ich einen Meister in Aktion. Dies, fand ich, war ein Beruf für einen Mann, der alles überschaute, ein sehr männlicher Beruf. Crzellitzer spielte Klavier, und er spielte wie ein Architekt: kräftig, strukturiert, gesetzt. Er malte auch, und auch dies tat er wie ein Architekt. Für mich wurde er zu "dem Architekten" schlechthin, und dieser Beruf, verkörpert in seiner Person und seinem Werk, unserem neuen Haus, hat mir seitdem stets Hochachtung eingeflösst. Crzellitzer gehörte zu den treibenden Kräften jener grossen Befreiungsbewegung, der modernen Architektur, von deren Ergebnissen ich mich plötzlich umgeben sah und die mich die muffigen, düsteren Häuser wie das, in dem wir vorher gewohnt hatten, verachten liess. Die andere Person, die sich ebenso aktiv an dem grossen Unternehmen beteiligt hatte, war mein Vater. Er hatte dem Architekten die ganze Zeit über die Schulter geschaut und sogar das eine oder andere Detail im Entwurf verändert und, wie er behauptete, verbessert. All die aufgemalten Vögel und Blumen an den Türen waren, wie erwähnt, sein Werk, auch der kleine Vogel, der gerade einen Klecks fallen liess und auf die Gästetoilette verwies. Er betrachtete das Haus als seine eigene Schöpfung und war mit dem Resultat äusserst zufrieden. Mein Vater Moritz Posener war ein moderner Maler. Seine Lebensgeschichte - er erzählte uns furchtbar gern von seinen frühen Jahren - scheint mir exemplarisch zu sein für die Abkehr von der Dunkelheit des vorangegangenen Jahrhunderts und die Hinwendung zum strahlenden Licht des zwanzigsten. Vater hatte keine leichte Kindheit gehabt. Mein Grossvater Josef muss ein aussergewöhnlicher Mann gewesen sein. Er stammte aus Wirsitz in der Provinz Posen, wo er eine Schneiderlehre absolviert hatte, bevor er sich zu Fuss oder mit dem Pferdewagen, wenn einer anhielt und ihn mitnahm, nach Berlin aufmachte, um dort als Schneidergeselle zu arbeiten. Von Berlin zog er zunächst weiter nach Paris und einige Jahre später nach London, wo die besten Herrenschneider sassen, bei denen man damals lernen konnte. Dort wurde er Kompagnon eines anderen jüdischen Schneiders, der dann nach New York auswanderte und ihn aufforderte, ihm zu folgen. Als mein Grossvater dort auf einem Segelschiff ankam, erfuhr er, dass sein Partner nach Rio de Janeiro weitergereist war und ihn nun dort treffen wollte. Wieder schiffte er sich ein. Als sein Schoner im Golf von Mexiko in eine wochenlange Flaute geriet, wäre er vor Hunger und Durst fast gestorben, schliesslich gelang es ihm aber, Rio zu erreichen. Die beiden gaben die Schneiderei bald auf und fingen an, mit Edelsteinen zu handeln, die sie auf langen Reisen durch den Dschungel mit Maultieren zu den Haziendas beförderten. Mein Grossvater machte ein kleines Vermögen und beschloss, in seine deutsche Heimat zurückzukehren. Er war auf dem Weg durch die dunklen engen Gassen, die zum Hafen hinunterführten, als er von Räubern überfallen wurde, die ihm den grössten Teil seiner Habe abnahmen. Danach musste er weitere fünf Jahre durchs Land ziehen und Edelsteine verkaufen, bis er sich wieder saniert hatte. Diesmal gelangte er ohne Zwischenfall nach Europa. In Den Haag heiratete er Cato van Meerloo und liess sich mit ihr in Berlin nieder, ein Mann mit bescheidenen Mitteln, die im wesentlichen aus den Einnahmen eines in Rio zurückgelassenen Juwelierladens stammten. Mein Grossvater starb Jahre vor meiner Geburt, aber ich habe sein brasilianisches Tagebuch gelesen und eine Reihe von Porträts gesehen, die mein Vater von ihm gemalt hat, speziell eines im Stil eines Meisters der Holbein-Schule mit dem Titel "Anno Aetatis Suae ..." Es zeigt das Gesicht eines Juden, der hart gearbeitet hat, eines Selfmademans, der aber selbst in seinen jungen Jahren, als er sich noch nach oben kämpfte, eine natürliche Würde besessen haben muss. Seine hellblauen Augen waren das jüdischste an seinem Gesicht. Sie hatten Leid gesehen und erfahren, sie drückten Verständnis und Mitgefühl aus, sie hatten alles überwunden. Meine Grossmutter ist sogar noch früher gestorben. Auch sie nimmt für mich nur durch die Geschichten meines Vaters Gestalt an und in einem Bild, das er einige Tage nach ihrem Tod gemalt hat: Man sieht sie an einem Vorfrühlingstag an einem geöffneten Fenster im Sterben liegen. Der Hintergrund mit dem Rasen und den kahlen Bäumen ist dunkel, und davor zeichnet sich im Halbprofil das blass schimmernde Gesicht der Sterbenden ab. Ihre Augen sind unter den schweren, faltigen Lidern fast geschlossen; ihr Profil ist rein und klar. Der alte José Posener war ein gütiger, liebevoller, strenger Vater, der mit seinen eigensinnigen, begabten, aber mit ihren überspannten Erwartungen ans Leben überforderten Kindern sicherlich seine liebe Not hatte. Das Phänomen ist möglicherweise typisch für eine jüdische Familie jener Zeit. Der alte Herr hatte die Grundlage gelegt, seine Kinder auf die höhere Schule geschickt, doch er selbst war kein gebildeter Mann. Die Kinder, die ihr Leben auf so viel höherem Niveau begannen, waren ehrgeizig. Julio, der jüngere Bruder meines Vaters, spielte virtuos, doch vollkommen gefühllos Klavier und konnte auch ziemlich gut zeichnen, musste aber nach Brasilien gehen, um sich um das Juwelengeschäft zu kümmern. Louis, der Lieblingsbruder meines Vaters, starb als junger Mann an Tuberkulose. Der jüngste Sohn George versuchte sich im Malen und in der Bildhauerei und beschloss dann, Schauspieler zu werden, wobei er sich als einmalig erfolglos erwies. Niedergeschlagen und eifersüchtig auf das einzig wahre Talent in der Familie, meinen Vater Moritz, musste er sich schliesslich mit dem drögen Beruf eines Zahnarztes begnügen. Mathilde, das einzige Mädchen unter den Geschwistern, heiratete zu früh; die Ehe wurde wieder geschieden. Und als mein Vater am Ende auch noch reich einheiratete, bekam der Groll, den seine Brüder gegen den einen hegten, der es im Leben zu etwas gebracht hatte, neue Nahrung. 2004, Hardcover/gebunden, wie neu, ca. 22 x 14,5 cm, 800g, 493 Seiten, Internationaler Versand, Banküberweisung.
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9783886807642 - POSENER, Julius: Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hrsg. von Alan
POSENER, Julius

Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hrsg. von Alan (2004)

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ORIGINAL VERPACKT - JULIUS POSENER - HEIMLICHE ERINNERUNGEN. IN DEUTSCHLAND 1904 BIS 1933 - Mit einem Anhang: In Germany again (1948) - Aus dem Englischen von Ruth Keen - Hrsg. von Alan Posener - SIEDLER VERLAG - 2004 - 493 SEITEN m. s/w-Abb. - FORMAT ca. 22 x 14,5 cm - ISBN 3886807649 bzw. 9783886807642 - GEBUNDENES EXEMPLAR MIT SCHUTZUMSCHLAG WIE ABGEBILDET - DAS EXEMPLAR IST UNBENUTZT, UNGELESEN UND NOCH ORIGINAL VERPACKT (IN FOLIE EINGESCHWEISST) - FOLIE GERINGFÜGIG OFFEN - SORGFÄLTIGER VERSAND - LIEFERZEIT/ BRD ca. 7 TAGE nach Zahlungseingang (manchmal schneller) - BITTE BEACHTEN: KEIN VERSAND AN PACKSTATIONEN - ANFRAGEN WERDEN GERN BEANTWORTET! (a/b - j9) - Heimliche Erinnerungen an Deutschland Das Umschlagbild zeigt einen Vater Anfang des vergangenen Jahrhunderts mit seinen drei Söhnen: Karl, Ludwig und - als jüngstem - Julius Posener. Das Bild strahlt die Sicherheit und Zuversicht einer grossbürgerlichen jüdischen Familie aus. Eine trügerische Sicherheit. Der Nationalsozialismus vertrieb die drei an unterschiedliche Enden der Welt: Karl, den Ältesten, ins Exil nach Australien, wo er schon 1946 starb Ludwig nach Palästina und Julius über England nach Malaysia. - In Kuala Lumpur, wo er Architektur lehrte, schrieb Julius Posener in der ihm noch fremden englischen Sprache seine Erinnerungen. Sie sind schärfer, direkter - und bitterer - als die Erinnerungen, die er im Alter in seiner Muttersprache verfasste und 1990 unter dem Titel Fast so alt wie das Jahrhundert veröffentlichte. - Es scheint, als würde das Brennglas des Exils Details vergrössern - die kindliche Schutzlosigkeit, die erwachende Sexualität, den eigenen Antisemitismus und die drohende Ausgrenzung - und so das eigene Leben wie die Brüche der Zeit umso plastischer hervortreten lassen. Das Buch ist auch - heimlich niedergeschrieben in der kolonialen Gesellschaft, die weder von Deutschen noch von Juden etwas wissen wollte - eine verstohlene Liebeserklärung an die verlorene Heimat. - "Poseners Erzählung von den geistigen Kämpfen in der Familie, der Schule und in der Jugendbewegung, seine freimütige Analyse der zerissenen Seelenlandschaft im bürgerlichen Judentum gehört zum Erhellendsten, was über die Inkubationszeit der deutschen Katastrophe von 1933 geschrieben worden ist. Seine tief ins Intime, auch Erotische greifende Analyse des Generationsproblems erinnert an ähnliche Passagen in Franz Kafkas Lebenszeugnissen." - Julius Posener (1904-1996) studierte Architektur an der Technischen Hochschule Berlin. 1935 Emigration nach Palästina, 1941 freiwillige Meldung zur britischen Armee, wurde 1946 britischer Staatsbürger. Nach Jahren der Lehrtätigkeit in London und Kuala Lumpur 1961 Berufung an den Lehrstuhl für Baugeschichte der Hochschule der Künste in Berlin. Fachveröffentlichungen. - Leseprobe: Ankunft, Abkunft Meine frühesten Erinnerungen sind traurig und beängstigend. Nach den ersten, flüchtigen und in meinem Gedächtnis nur schemenhaft erhaltenen Momenten bewusster Wahrnehmung, die nur Bewegung enthüllen - ich werde in schwindelerregende Höhen gehoben, im Gleitflug eine Treppe hinuntergetragen, zwischen die Kissen eines übergrossen Kinderwagens gestopft oder auf einen turmhohen Kinderstuhl gesetzt -, ist meine früheste, halbwegs deutliche Erinnerung diese: Jemand hält mich im Arm, ich glaube, es ist mein Vater, doch dann werde ich in andere Arme weitergereicht. Die Szene spielt sich im Esszimmer ab, und auf dem Tisch steht eine längliche Schale mit Operationsbesteck. Ich werde getröstet: Man hat mir die Mandeln herausgenommen. Es gibt keine Erinnerung an Schmerzen, nur an etwas Unverstandenes und Trauriges. Die nächste Erinnerung ist deutlicher. Ich stehe in einem Zimmer mit hoher Decke und einem Fussboden aus breiten, unregelmässigen Dielen, und dieser ist direkt unter mir besudelt. Mein Hinterteil fühlt sich klebrig an, nach warmem, weichem Kot. Ich weine. Jemand, ich glaube, es ist das Mädchen - aber meine Mutter muss kurz darauf dazugekommen sein -, eilt zu mir und sagt, ich müsse mich nicht schämen, es sei nicht meine Schuld. Die dritte Erinnerung stammt von meinem vierten Geburtstag. Einige Zeit zuvor hatten meine beiden Brüder, die drei und sechs Jahre älter waren als ich, heimlich an einer Überraschung für mich gearbeitet. An meinem grossen Tag warte ich im dunklen Korridor vor dem Geburtstagszimmer, wo ich durch einen Spalt in der Tür das Flackern des Lebenslichts sehen kann. Bald darauf werde ich in den Raum geführt und schaue erwartungsvoll zum Gabentisch hinauf. Mein ältester Bruder will mir das Modell eines Zeppelins zeigen, das er für mich gebastelt hat, aber er gerät damit an die Kerzenflamme, und das Ding fängt sofort Feuer. Schreiend renne ich aus dem Zimmer und in die Küche, wo sich alles um mich schart, um mich zu trösten. Trotz meines unvergessenen Entsetzens taten mir meine Brüder, deren Werk und die Freude, die sie mir machen wollten, zerstört worden waren, leid. Der Hangar aus Pappe, den sie für den Zeppelin gebaut hatten, blieb für viele Jahre Bestandteil unseres Spielzeugs, aber ich konnte ihn nie ansehen oder berühren, ohne einen leichten, ehrfürchtigen Schauer angesichts der damit verbundenen Tragödie zu verspüren. Jahre später, als ich über die Katastrophe von Graf Zeppelins Luftschiff in Echterdingen las, verknüpfte ich das Ereignis eng mit dem, was am Gabentisch meines vierten Geburtstags geschehen war. Danach stellen sich friedlichere Erinnerungen ein: Sie handeln von Spaziergängen an der Hand eines Dienstmädchens, zusammen mit meinem Bruder Ludwig, Karl war zu alt dafür. Wir gehen durch die Strassen der Gartenvorstadt von Berlin, in der wir lebten. Ich sehe - und rieche - noch ganz deutlich braunes Laub, das ich durch die Lücken am Fusse der gusseisernen Zäune erkennen konnte. Ich weiss nicht, warum mir gerade diese Erinnerung so viel bedeutet, aber ich gebe mich ihr noch heute gerne hin. Wir wohnten damals in der Holbeinstrasse in Lichterfelde in einem düsteren und weitläufigen Haus mit riesigen Kachelöfen. In der Abenddämmerung, besonders im Winter, wurde das Gaslicht oder eine Petroleumlampe angezündet, und ich weiss noch, dass ich mich vor dem Geruch des ausströmenden Petroleums in dem Augenblick, bevor die Flamme hell wurde, und auch vor dem gelegentlichen Zischen des Gases fürchtete. Das Haus stand in einem grossen moderigen Garten mit einem Springbrunnen davor. Einmal trank ich Wasser aus diesem Brunnen, indem ich es mit meiner Spielzeugtrompete ansaugte, und wurde streng gerügt, als ich später Bauchschmerzen bekam und meine Sünde beichtete. Immerhin gab man mir daraufhin ein alkoholisches Tonikum, das mir sehr gut schmeckte. Richtigen Ärger bekam ich, als Willi, der Sohn des Gärtners, ein seltsames Spiel mit mir spielte. Ich musste mich auf einen Gartentisch legen und ein "krankes Häschen" sein, während er der Doktor war und meinen Penis hielt, um mich zu heilen. Als wir ertappt wurden, endete diese "Freundschaft" mit dem "schmutzigen Jungen". Mir war damals vollkommen bewusst, dass man so etwas nicht tut, und aus diesem Grund - und anderen Gründen - war das Gefühl, das ich während unserer Treffen hatte, das einer süssen und schamvollen Hingabe. Kurz darauf machte ich eine neue Entdeckung, als ich im Garten an einem Seil hinaufkletterte, aber diesmal fühlte ich mich vollkommen unschuldig und nannte die Erfahrung, die ich oft wiederholte, "meine Lieblingsübung". In unserem neuen Haus brachte ich sie sogar der Gärtnerstochter bei, während ich sie meinem älteren Bruder irgendwie nicht zeigen wollte. Ich entwickelte bereits sehr früh ein Ichbewusstsein und liebte die Geschichten über mich, die mir meine Eltern aus den Jahren erzählten, an die ich mich nicht erinnerte, zum Beispiel, wie ich innerhalb von drei Tagen mein Lispeln überwunden hatte, ebenso wie meinen "Hackbiss", bei dem ich meine Zähne aufeinandersetzte, wenn ich den Mund schloss, anstatt den Unterkiefer unter den Oberkiefer rutschen zu lassen. Ich entsinne mich tatsächlich, wie ich mit unermüdlicher Energie die korrekte Haltung übte und dafür oft gelobt wurde. Meine erste Bekanntschaft mit meinem Spiegelbild war schmerzlich doch es gelang mir, mich davon zu überzeugen, dass ich ein aussergewöhnliches Gesicht haben musste, denn die alten Tanten oder anderen alten Damen, die uns besuchten oder die wir auf der Strasse trafen, unterliessen es nie, meinen ernsten Gesichtsausdruck zu erwähnen, und eine sagte einmal: "Da kommt ja der junge Moltke." Wie stolz mich diese Bemerkung machte, kann man daran erkennen, dass ich mich noch heute daran erinnere. Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich zu Höherem berufen war. Dennoch sind meine Erinnerungen an diese frühesten Kindheitsjahre nicht angenehm. Wenn ich ernst aussah, dann lag es nicht daran, dass ich tiefen Gedanken nachhing, wie manche Leute offenbar glaubten. In Wirklichkeit war ich meistens verträumt, voller Furcht, traurig und gelangweilt, und das Haus, in dem wir lebten, mit seinen vielen dunklen Ecken, den hohen Fenstern, den nackten Fussböden und den verschnörkelten Möbeln von erdrückender Grösse habe ich nie gemocht. Insbesondere die Standuhr versetzte mich in panische Angst. Sie hatte gedrehte Säulen, die das Uhrwerk stützten, und sehr schwere Messinggewichte. Bevor sie mit einem besonders lauten und harten Ton die volle Stunde anschlug, schien sie erst einmal Luft zu holen, wobei sie ein Geräusch machte, das wie "Tiffteliff" klang. Das hörte sich dann so an: Tiffteliff, gong, gong, gong, gong. Ich nannte sie, warum weiss ich nicht, die "Ofenuhr", und diese Ofenuhr verwandelte sich in die mörderische Lokomotive oder (mit den gedrehten Säulen als Stosszähnen) in den wütenden Elefanten meiner Alpträume, in denen sie mich langsam aber mit tödlicher Sicherheit in eine geheimnisvolle Finsternis hinein verfolgten. Ich hielt mich nicht einmal bei Tag gern in der Nähe der "Ofenuhr" auf und war froh, dass sich mein Platz am Esstisch auf der gegenüberliegenden Seite befand, wo ich sie im Auge behalten konnte und ihre Gegenwart nicht im Rücken spüren musste. Eine grosse Veränderung trat in meinem sechsten Lebensjahr ein, 1910, als meine Eltern nicht weit von der Holbeinstrasse inmitten herrlicher Kastanien ein neues Haus auf einem grossen Eckgrundstück bauen liessen. Kastanienbäume bedeuten für mich noch heute das neue, das geliebte Heim (das erste Haus war trostlos gewesen), die erste Liebe, erste Musik, meine ersten eigenen Gedichte. Ich habe dieselben Bäume fünfzehn Jahre lang vor Augen gehabt, meine gesamte bewusste Kindheit und Jugend hindurch. Anfangs war das neue Grundstück in der Karlstrasse nichts als ein herrlicher Spielplatz, wo wir auf Leitern klettern, über Schubkarren stolpern und uns im hohen Gras verkriechen konnten. Der Bauplatz war sonnig und verwildert, ein Jungenparadies. Natürlich begannen wir beide, Ludwig und ich, sobald wir eingezogen waren, nach der "Holbeinstrasse" zu quengeln. "Es war so gemütlich da", jammerten wir. Trotzdem: Im neuen Haus gab es elektrisches, gelbliches Licht, was nun wirklich anheimelnder war als das kalte weisse Gaslicht im alten Heim. Es war zentralgeheizt, und in jedem Zimmer standen Heizkörper, die noch nach frischer Farbe rochen. Die in den Empfangsräumen hatten eine Holzverkleidung, die oben mit einem Bronzegitter abgedeckt war, auf dem man im Winter sitzen und sich den Hintern wärmen konnte. Wir hatten Einbauschränke in den Schlafzimmern, und die schwerfälligen Schränke aus dem alten Haus hatte mein Vater alle blau gestrichen und wie die blauen und cremefarbenen Türen im Haus mit Blumen und Vögeln im "Bauernstil" verziert. In dem riesigen Dachgeschoss befand sich das Atelier meines Vaters, und darüber war sogar noch Platz für einen hohen Dachboden. Dieses Dachgeschoss war aussen in einem dunkelbraunen Farbton rauhverputzt, weshalb unser Haus von den Jungen in unserer Strasse "Schokoladenvilla" genannt wurde. Es war ein modernes Haus, genauer gesagt, ein Haus im "englischen Landhausstil" - geräumig, sonnig und bequem -, und stand in einem formstreng angelegten Garten mit weissen Gartenbänken, breiten Blumenbeeten und einer Vogeltränke. Auf den Rasenflächen zu beiden Seiten des Gartenpfades in der Mitte wuchsen Apfelbäume, Quitten-, Birn- und Kirschbäume. Am Zaun zum Nachbargrundstück verlief ein langes Beet, in dem Erdbeeren und Stachelbeeren angepflanzt waren, während ein Spalier aus Pfirsich- und Aprikosenbäumen den Zaun verdeckte. Die Obstbäume waren bei unserem Einzug gesetzt worden, und wir konnten zusehen, wie sie zu kräftigen, prächtigen Bäumen heranwuchsen, die mit jedem Jahr eine bessere Ernte erbrachten. Hinter dem Haus und entlang der langen Strassenfront standen blühende Büsche, ideal zum Versteckspielen. Es dauerte nicht einmal einen Monat, bis wir unseren täglichen sehnsüchtigen Spaziergang zur Holbeinstrasse aufgegeben und uns in unserem neuen Heim glücklich eingelebt hatten. Unser Kinderzimmer, ein riesengrosser Raum mit einem Bodenbelag aus Linoleum, hatte eine Loggia, eine Ecke, in der wir Schularbeiten machen konnten, und einen Kaufmannsladen. Ludwig und ich schliefen noch in weissgestrichenen Kinderbetten aus Eisen. Ausserdem war unser Zimmer mit einem ebenfalls eisernen Wäscheständer und zwei grossen blauen Kleiderschränken möbliert. In der Mitte stand ein Tisch mit Stühlen, es blieb aber noch genügend Platz auf dem Fussboden, damit wir mit Zinnsoldaten oder unserer Eisenbahn spielen konnten. Zwei Personen beeindruckten mich sehr stark während der Bauzeit und der ersten Wochen im neuen Haus. In erster Linie der Architekt. Fritz Crzellitzer war ein kleiner Mann mit dunklem Haar, einer kurzen, leicht gebogenen Nase und lustigen, braunen Augen. Wenn er auf der Baustelle erschien, seine Entwürfe ausrollte und dem Polier Anweisungen erteilte, sah ich einen Meister in Aktion. Dies, fand ich, war ein Beruf für einen Mann, der alles überschaute, ein sehr männlicher Beruf. Crzellitzer spielte Klavier, und er spielte wie ein Architekt: kräftig, strukturiert, gesetzt. Er malte auch, und auch dies tat er wie ein Architekt. Für mich wurde er zu "dem Architekten" schlechthin, und dieser Beruf, verkörpert in seiner Person und seinem Werk, unserem neuen Haus, hat mir seitdem stets Hochachtung eingeflösst. Crzellitzer gehörte zu den treibenden Kräften jener grossen Befreiungsbewegung, der modernen Architektur, von deren Ergebnissen ich mich plötzlich umgeben sah und die mich die muffigen, düsteren Häuser wie das, in dem wir vorher gewohnt hatten, verachten liess. Die andere Person, die sich ebenso aktiv an dem grossen Unternehmen beteiligt hatte, war mein Vater. Er hatte dem Architekten die ganze Zeit über die Schulter geschaut und sogar das eine oder andere Detail im Entwurf verändert und, wie er behauptete, verbessert. All die aufgemalten Vögel und Blumen an den Türen waren, wie erwähnt, sein Werk, auch der kleine Vogel, der gerade einen Klecks fallen liess und auf die Gästetoilette verwies. Er betrachtete das Haus als seine eigene Schöpfung und war mit dem Resultat äusserst zufrieden. Mein Vater Moritz Posener war ein moderner Maler. Seine Lebensgeschichte - er erzählte uns furchtbar gern von seinen frühen Jahren - scheint mir exemplarisch zu sein für die Abkehr von der Dunkelheit des vorangegangenen Jahrhunderts und die Hinwendung zum strahlenden Licht des zwanzigsten. Vater hatte keine leichte Kindheit gehabt. Mein Grossvater Josef muss ein aussergewöhnlicher Mann gewesen sein. Er stammte aus Wirsitz in der Provinz Posen, wo er eine Schneiderlehre absolviert hatte, bevor er sich zu Fuss oder mit dem Pferdewagen, wenn einer anhielt und ihn mitnahm, nach Berlin aufmachte, um dort als Schneidergeselle zu arbeiten. Von Berlin zog er zunächst weiter nach Paris und einige Jahre später nach London, wo die besten Herrenschneider sassen, bei denen man damals lernen konnte. Dort wurde er Kompagnon eines anderen jüdischen Schneiders, der dann nach New York auswanderte und ihn aufforderte, ihm zu folgen. Als mein Grossvater dort auf einem Segelschiff ankam, erfuhr er, dass sein Partner nach Rio de Janeiro weitergereist war und ihn nun dort treffen wollte. Wieder schiffte er sich ein. Als sein Schoner im Golf von Mexiko in eine wochenlange Flaute geriet, wäre er vor Hunger und Durst fast gestorben, schliesslich gelang es ihm aber, Rio zu erreichen. Die beiden gaben die Schneiderei bald auf und fingen an, mit Edelsteinen zu handeln, die sie auf langen Reisen durch den Dschungel mit Maultieren zu den Haziendas beförderten. Mein Grossvater machte ein kleines Vermögen und beschloss, in seine deutsche Heimat zurückzukehren. Er war auf dem Weg durch die dunklen engen Gassen, die zum Hafen hinunterführten, als er von Räubern überfallen wurde, die ihm den grössten Teil seiner Habe abnahmen. Danach musste er weitere fünf Jahre durchs Land ziehen und Edelsteine verkaufen, bis er sich wieder saniert hatte. Diesmal gelangte er ohne Zwischenfall nach Europa. In Den Haag heiratete er Cato van Meerloo und liess sich mit ihr in Berlin nieder, ein Mann mit bescheidenen Mitteln, die im wesentlichen aus den Einnahmen eines in Rio zurückgelassenen Juwelierladens stammten. Mein Grossvater starb Jahre vor meiner Geburt, aber ich habe sein brasilianisches Tagebuch gelesen und eine Reihe von Porträts gesehen, die mein Vater von ihm gemalt hat, speziell eines im Stil eines Meisters der Holbein-Schule mit dem Titel "Anno Aetatis Suae ..." Es zeigt das Gesicht eines Juden, der hart gearbeitet hat, eines Selfmademans, der aber selbst in seinen jungen Jahren, als er sich noch nach oben kämpfte, eine natürliche Würde besessen haben muss. Seine hellblauen Augen waren das jüdischste an seinem Gesicht. Sie hatten Leid gesehen und erfahren, sie drückten Verständnis und Mitgefühl aus, sie hatten alles überwunden. Meine Grossmutter ist sogar noch früher gestorben. Auch sie nimmt für mich nur durch die Geschichten meines Vaters Gestalt an und in einem Bild, das er einige Tage nach ihrem Tod gemalt hat: Man sieht sie an einem Vorfrühlingstag an einem geöffneten Fenster im Sterben liegen. Der Hintergrund mit dem Rasen und den kahlen Bäumen ist dunkel, und davor zeichnet sich im Halbprofil das blass schimmernde Gesicht der Sterbenden ab. Ihre Augen sind unter den schweren, faltigen Lidern fast geschlossen ihr Profil ist rein und klar. Der alte José Posener war ein gütiger, liebevoller, strenger Vater, der mit seinen eigensinnigen, begabten, aber mit ihren überspannten Erwartungen ans Leben überforderten Kindern sicherlich seine liebe Not hatte. Das Phänomen ist möglicherweise typisch für eine jüdische Familie jener Zeit. Der alte Herr hatte die Grundlage gelegt, seine Kinder auf die höhere Schule geschickt, doch er selbst war kein gebildeter Mann. Die Kinder, die ihr Leben auf so viel höherem Niveau begannen, waren ehrgeizig. Julio, der jüngere Bruder meines Vaters, spielte virtuos, doch vollkommen gefühllos Klavier und konnte auch ziemlich gut zeichnen, musste aber nach Brasilien gehen, um sich um das Juwelengeschäft zu kümmern. Louis, der Lieblingsbruder meines Vaters, starb als junger Mann an Tuberkulose. Der jüngste Sohn George versuchte sich im Malen und in der Bildhauerei und beschloss dann, Schauspieler zu werden, wobei er sich als einmalig erfolglos erwies. Niedergeschlagen und eifersüchtig auf das einzig wahre Talent in der Familie, meinen Vater Moritz, musste er sich schliesslich mit dem drögen Beruf eines Zahnarztes begnügen. Mathilde, das einzige Mädchen unter den Geschwistern, heiratete zu früh die Ehe wurde wieder geschieden. Und als mein Vater am Ende auch noch reich einheiratete, bekam der Groll, den seine Brüder gegen den einen hegten, der es im Leben zu etwas gebracht hatte, neue Nahrung. 2004, Hardcover/gebunden, wie neu, ca. 22 x 14,5 cm, 800g, 493 Seiten, Internationaler Versand, Banküberweisung.
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9783886807642 - POSENER, Julius: Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hrsg. von Alan
POSENER, Julius

Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 1933. Mit einem Anhang: In Germany again (1948). Aus dem Englischen von Ruth Keen. Hrsg. von Alan (2004)

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ISBN: 9783886807642 bzw. 3886807649, in Deutsch, 493 Seiten, Siedler, gebraucht, guter Zustand, mit Einband.

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ORIGINAL VERPACKT - JULIUS POSENER - HEIMLICHE ERINNERUNGEN. IN DEUTSCHLAND 1904 BIS 1933 - Mit einem Anhang: In Germany again (1948) - Aus dem Englischen von Ruth Keen - Hrsg. von Alan Posener - SIEDLER VERLAG - 2004 - 493 SEITEN m. s/w-Abb. - FORMAT ca. 22 x 14,5 cm - ISBN 3886807649 bzw. 9783886807642 - GEBUNDENES EXEMPLAR MIT SCHUTZUMSCHLAG WIE ABGEBILDET - DAS EXEMPLAR IST UNBENUTZT, UNGELESEN UND NOCH ORIGINAL VERPACKT (IN FOLIE EINGESCHWEISST) - FOLIE GERINGFÜGIG OFFEN - SORGFÄLTIGER VERSAND - LIEFERZEIT/ BRD ca. 7 TAGE nach Zahlungseingang (manchmal schneller) - BITTE BEACHTEN: KEIN VERSAND AN PACKSTATIONEN - ANFRAGEN WERDEN GERN BEANTWORTET! (a/b - j9) - Heimliche Erinnerungen an Deutschland Das Umschlagbild zeigt einen Vater Anfang des vergangenen Jahrhunderts mit seinen drei Söhnen: Karl, Ludwig und - als jüngstem - Julius Posener. Das Bild strahlt die Sicherheit und Zuversicht einer grossbürgerlichen jüdischen Familie aus. Eine trügerische Sicherheit. Der Nationalsozialismus vertrieb die drei an unterschiedliche Enden der Welt: Karl, den Ältesten, ins Exil nach Australien, wo er schon 1946 starb Ludwig nach Palästina und Julius über England nach Malaysia. - In Kuala Lumpur, wo er Architektur lehrte, schrieb Julius Posener in der ihm noch fremden englischen Sprache seine Erinnerungen. Sie sind schärfer, direkter - und bitterer - als die Erinnerungen, die er im Alter in seiner Muttersprache verfasste und 1990 unter dem Titel Fast so alt wie das Jahrhundert veröffentlichte. - Es scheint, als würde das Brennglas des Exils Details vergrössern - die kindliche Schutzlosigkeit, die erwachende Sexualität, den eigenen Antisemitismus und die drohende Ausgrenzung - und so das eigene Leben wie die Brüche der Zeit umso plastischer hervortreten lassen. Das Buch ist auch - heimlich niedergeschrieben in der kolonialen Gesellschaft, die weder von Deutschen noch von Juden etwas wissen wollte - eine verstohlene Liebeserklärung an die verlorene Heimat. - "Poseners Erzählung von den geistigen Kämpfen in der Familie, der Schule und in der Jugendbewegung, seine freimütige Analyse der zerissenen Seelenlandschaft im bürgerlichen Judentum gehört zum Erhellendsten, was über die Inkubationszeit der deutschen Katastrophe von 1933 geschrieben worden ist. Seine tief ins Intime, auch Erotische greifende Analyse des Generationsproblems erinnert an ähnliche Passagen in Franz Kafkas Lebenszeugnissen." - Julius Posener (1904-1996) studierte Architektur an der Technischen Hochschule Berlin. 1935 Emigration nach Palästina, 1941 freiwillige Meldung zur britischen Armee, wurde 1946 britischer Staatsbürger. Nach Jahren der Lehrtätigkeit in London und Kuala Lumpur 1961 Berufung an den Lehrstuhl für Baugeschichte der Hochschule der Künste in Berlin. Fachveröffentlichungen. - Leseprobe: Ankunft, Abkunft Meine frühesten Erinnerungen sind traurig und beängstigend. Nach den ersten, flüchtigen und in meinem Gedächtnis nur schemenhaft erhaltenen Momenten bewusster Wahrnehmung, die nur Bewegung enthüllen - ich werde in schwindelerregende Höhen gehoben, im Gleitflug eine Treppe hinuntergetragen, zwischen die Kissen eines übergrossen Kinderwagens gestopft oder auf einen turmhohen Kinderstuhl gesetzt -, ist meine früheste, halbwegs deutliche Erinnerung diese: Jemand hält mich im Arm, ich glaube, es ist mein Vater, doch dann werde ich in andere Arme weitergereicht. Die Szene spielt sich im Esszimmer ab, und auf dem Tisch steht eine längliche Schale mit Operationsbesteck. Ich werde getröstet: Man hat mir die Mandeln herausgenommen. Es gibt keine Erinnerung an Schmerzen, nur an etwas Unverstandenes und Trauriges. Die nächste Erinnerung ist deutlicher. Ich stehe in einem Zimmer mit hoher Decke und einem Fussboden aus breiten, unregelmässigen Dielen, und dieser ist direkt unter mir besudelt. Mein Hinterteil fühlt sich klebrig an, nach warmem, weichem Kot. Ich weine. Jemand, ich glaube, es ist das Mädchen - aber meine Mutter muss kurz darauf dazugekommen sein -, eilt zu mir und sagt, ich müsse mich nicht schämen, es sei nicht meine Schuld. Die dritte Erinnerung stammt von meinem vierten Geburtstag. Einige Zeit zuvor hatten meine beiden Brüder, die drei und sechs Jahre älter waren als ich, heimlich an einer Überraschung für mich gearbeitet. An meinem grossen Tag warte ich im dunklen Korridor vor dem Geburtstagszimmer, wo ich durch einen Spalt in der Tür das Flackern des Lebenslichts sehen kann. Bald darauf werde ich in den Raum geführt und schaue erwartungsvoll zum Gabentisch hinauf. Mein ältester Bruder will mir das Modell eines Zeppelins zeigen, das er für mich gebastelt hat, aber er gerät damit an die Kerzenflamme, und das Ding fängt sofort Feuer. Schreiend renne ich aus dem Zimmer und in die Küche, wo sich alles um mich schart, um mich zu trösten. Trotz meines unvergessenen Entsetzens taten mir meine Brüder, deren Werk und die Freude, die sie mir machen wollten, zerstört worden waren, leid. Der Hangar aus Pappe, den sie für den Zeppelin gebaut hatten, blieb für viele Jahre Bestandteil unseres Spielzeugs, aber ich konnte ihn nie ansehen oder berühren, ohne einen leichten, ehrfürchtigen Schauer angesichts der damit verbundenen Tragödie zu verspüren. Jahre später, als ich über die Katastrophe von Graf Zeppelins Luftschiff in Echterdingen las, verknüpfte ich das Ereignis eng mit dem, was am Gabentisch meines vierten Geburtstags geschehen war. Danach stellen sich friedlichere Erinnerungen ein: Sie handeln von Spaziergängen an der Hand eines Dienstmädchens, zusammen mit meinem Bruder Ludwig, Karl war zu alt dafür. Wir gehen durch die Strassen der Gartenvorstadt von Berlin, in der wir lebten. Ich sehe - und rieche - noch ganz deutlich braunes Laub, das ich durch die Lücken am Fusse der gusseisernen Zäune erkennen konnte. Ich weiss nicht, warum mir gerade diese Erinnerung so viel bedeutet, aber ich gebe mich ihr noch heute gerne hin. Wir wohnten damals in der Holbeinstrasse in Lichterfelde in einem düsteren und weitläufigen Haus mit riesigen Kachelöfen. In der Abenddämmerung, besonders im Winter, wurde das Gaslicht oder eine Petroleumlampe angezündet, und ich weiss noch, dass ich mich vor dem Geruch des ausströmenden Petroleums in dem Augenblick, bevor die Flamme hell wurde, und auch vor dem gelegentlichen Zischen des Gases fürchtete. Das Haus stand in einem grossen moderigen Garten mit einem Springbrunnen davor. Einmal trank ich Wasser aus diesem Brunnen, indem ich es mit meiner Spielzeugtrompete ansaugte, und wurde streng gerügt, als ich später Bauchschmerzen bekam und meine Sünde beichtete. Immerhin gab man mir daraufhin ein alkoholisches Tonikum, das mir sehr gut schmeckte. Richtigen Ärger bekam ich, als Willi, der Sohn des Gärtners, ein seltsames Spiel mit mir spielte. Ich musste mich auf einen Gartentisch legen und ein "krankes Häschen" sein, während er der Doktor war und meinen Penis hielt, um mich zu heilen. Als wir ertappt wurden, endete diese "Freundschaft" mit dem "schmutzigen Jungen". Mir war damals vollkommen bewusst, dass man so etwas nicht tut, und aus diesem Grund - und anderen Gründen - war das Gefühl, das ich während unserer Treffen hatte, das einer süssen und schamvollen Hingabe. Kurz darauf machte ich eine neue Entdeckung, als ich im Garten an einem Seil hinaufkletterte, aber diesmal fühlte ich mich vollkommen unschuldig und nannte die Erfahrung, die ich oft wiederholte, "meine Lieblingsübung". In unserem neuen Haus brachte ich sie sogar der Gärtnerstochter bei, während ich sie meinem älteren Bruder irgendwie nicht zeigen wollte. Ich entwickelte bereits sehr früh ein Ichbewusstsein und liebte die Geschichten über mich, die mir meine Eltern aus den Jahren erzählten, an die ich mich nicht erinnerte, zum Beispiel, wie ich innerhalb von drei Tagen mein Lispeln überwunden hatte, ebenso wie meinen "Hackbiss", bei dem ich meine Zähne aufeinandersetzte, wenn ich den Mund schloss, anstatt den Unterkiefer unter den Oberkiefer rutschen zu lassen. Ich entsinne mich tatsächlich, wie ich mit unermüdlicher Energie die korrekte Haltung übte und dafür oft gelobt wurde. Meine erste Bekanntschaft mit meinem Spiegelbild war schmerzlich doch es gelang mir, mich davon zu überzeugen, dass ich ein aussergewöhnliches Gesicht haben musste, denn die alten Tanten oder anderen alten Damen, die uns besuchten oder die wir auf der Strasse trafen, unterliessen es nie, meinen ernsten Gesichtsausdruck zu erwähnen, und eine sagte einmal: "Da kommt ja der junge Moltke." Wie stolz mich diese Bemerkung machte, kann man daran erkennen, dass ich mich noch heute daran erinnere. Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich zu Höherem berufen war. Dennoch sind meine Erinnerungen an diese frühesten Kindheitsjahre nicht angenehm. Wenn ich ernst aussah, dann lag es nicht daran, dass ich tiefen Gedanken nachhing, wie manche Leute offenbar glaubten. In Wirklichkeit war ich meistens verträumt, voller Furcht, traurig und gelangweilt, und das Haus, in dem wir lebten, mit seinen vielen dunklen Ecken, den hohen Fenstern, den nackten Fussböden und den verschnörkelten Möbeln von erdrückender Grösse habe ich nie gemocht. Insbesondere die Standuhr versetzte mich in panische Angst. Sie hatte gedrehte Säulen, die das Uhrwerk stützten, und sehr schwere Messinggewichte. Bevor sie mit einem besonders lauten und harten Ton die volle Stunde anschlug, schien sie erst einmal Luft zu holen, wobei sie ein Geräusch machte, das wie "Tiffteliff" klang. Das hörte sich dann so an: Tiffteliff, gong, gong, gong, gong. Ich nannte sie, warum weiss ich nicht, die "Ofenuhr", und diese Ofenuhr verwandelte sich in die mörderische Lokomotive oder (mit den gedrehten Säulen als Stosszähnen) in den wütenden Elefanten meiner Alpträume, in denen sie mich langsam aber mit tödlicher Sicherheit in eine geheimnisvolle Finsternis hinein verfolgten. Ich hielt mich nicht einmal bei Tag gern in der Nähe der "Ofenuhr" auf und war froh, dass sich mein Platz am Esstisch auf der gegenüberliegenden Seite befand, wo ich sie im Auge behalten konnte und ihre Gegenwart nicht im Rücken spüren musste. Eine grosse Veränderung trat in meinem sechsten Lebensjahr ein, 1910, als meine Eltern nicht weit von der Holbeinstrasse inmitten herrlicher Kastanien ein neues Haus auf einem grossen Eckgrundstück bauen liessen. Kastanienbäume bedeuten für mich noch heute das neue, das geliebte Heim (das erste Haus war trostlos gewesen), die erste Liebe, erste Musik, meine ersten eigenen Gedichte. Ich habe dieselben Bäume fünfzehn Jahre lang vor Augen gehabt, meine gesamte bewusste Kindheit und Jugend hindurch. Anfangs war das neue Grundstück in der Karlstrasse nichts als ein herrlicher Spielplatz, wo wir auf Leitern klettern, über Schubkarren stolpern und uns im hohen Gras verkriechen konnten. Der Bauplatz war sonnig und verwildert, ein Jungenparadies. Natürlich begannen wir beide, Ludwig und ich, sobald wir eingezogen waren, nach der "Holbeinstrasse" zu quengeln. "Es war so gemütlich da", jammerten wir. Trotzdem: Im neuen Haus gab es elektrisches, gelbliches Licht, was nun wirklich anheimelnder war als das kalte weisse Gaslicht im alten Heim. Es war zentralgeheizt, und in jedem Zimmer standen Heizkörper, die noch nach frischer Farbe rochen. Die in den Empfangsräumen hatten eine Holzverkleidung, die oben mit einem Bronzegitter abgedeckt war, auf dem man im Winter sitzen und sich den Hintern wärmen konnte. Wir hatten Einbauschränke in den Schlafzimmern, und die schwerfälligen Schränke aus dem alten Haus hatte mein Vater alle blau gestrichen und wie die blauen und cremefarbenen Türen im Haus mit Blumen und Vögeln im "Bauernstil" verziert. In dem riesigen Dachgeschoss befand sich das Atelier meines Vaters, und darüber war sogar noch Platz für einen hohen Dachboden. Dieses Dachgeschoss war aussen in einem dunkelbraunen Farbton rauhverputzt, weshalb unser Haus von den Jungen in unserer Strasse "Schokoladenvilla" genannt wurde. Es war ein modernes Haus, genauer gesagt, ein Haus im "englischen Landhausstil" - geräumig, sonnig und bequem -, und stand in einem formstreng angelegten Garten mit weissen Gartenbänken, breiten Blumenbeeten und einer Vogeltränke. Auf den Rasenflächen zu beiden Seiten des Gartenpfades in der Mitte wuchsen Apfelbäume, Quitten-, Birn- und Kirschbäume. Am Zaun zum Nachbargrundstück verlief ein langes Beet, in dem Erdbeeren und Stachelbeeren angepflanzt waren, während ein Spalier aus Pfirsich- und Aprikosenbäumen den Zaun verdeckte. Die Obstbäume waren bei unserem Einzug gesetzt worden, und wir konnten zusehen, wie sie zu kräftigen, prächtigen Bäumen heranwuchsen, die mit jedem Jahr eine bessere Ernte erbrachten. Hinter dem Haus und entlang der langen Strassenfront standen blühende Büsche, ideal zum Versteckspielen. Es dauerte nicht einmal einen Monat, bis wir unseren täglichen sehnsüchtigen Spaziergang zur Holbeinstrasse aufgegeben und uns in unserem neuen Heim glücklich eingelebt hatten. Unser Kinderzimmer, ein riesengrosser Raum mit einem Bodenbelag aus Linoleum, hatte eine Loggia, eine Ecke, in der wir Schularbeiten machen konnten, und einen Kaufmannsladen. Ludwig und ich schliefen noch in weissgestrichenen Kinderbetten aus Eisen. Ausserdem war unser Zimmer mit einem ebenfalls eisernen Wäscheständer und zwei grossen blauen Kleiderschränken möbliert. In der Mitte stand ein Tisch mit Stühlen, es blieb aber noch genügend Platz auf dem Fussboden, damit wir mit Zinnsoldaten oder unserer Eisenbahn spielen konnten. Zwei Personen beeindruckten mich sehr stark während der Bauzeit und der ersten Wochen im neuen Haus. In erster Linie der Architekt. Fritz Crzellitzer war ein kleiner Mann mit dunklem Haar, einer kurzen, leicht gebogenen Nase und lustigen, braunen Augen. Wenn er auf der Baustelle erschien, seine Entwürfe ausrollte und dem Polier Anweisungen erteilte, sah ich einen Meister in Aktion. Dies, fand ich, war ein Beruf für einen Mann, der alles überschaute, ein sehr männlicher Beruf. Crzellitzer spielte Klavier, und er spielte wie ein Architekt: kräftig, strukturiert, gesetzt. Er malte auch, und auch dies tat er wie ein Architekt. Für mich wurde er zu "dem Architekten" schlechthin, und dieser Beruf, verkörpert in seiner Person und seinem Werk, unserem neuen Haus, hat mir seitdem stets Hochachtung eingeflösst. Crzellitzer gehörte zu den treibenden Kräften jener grossen Befreiungsbewegung, der modernen Architektur, von deren Ergebnissen ich mich plötzlich umgeben sah und die mich die muffigen, düsteren Häuser wie das, in dem wir vorher gewohnt hatten, verachten liess. Die andere Person, die sich ebenso aktiv an dem grossen Unternehmen beteiligt hatte, war mein Vater. Er hatte dem Architekten die ganze Zeit über die Schulter geschaut und sogar das eine oder andere Detail im Entwurf verändert und, wie er behauptete, verbessert. All die aufgemalten Vögel und Blumen an den Türen waren, wie erwähnt, sein Werk, auch der kleine Vogel, der gerade einen Klecks fallen liess und auf die Gästetoilette verwies. Er betrachtete das Haus als seine eigene Schöpfung und war mit dem Resultat äusserst zufrieden. Mein Vater Moritz Posener war ein moderner Maler. Seine Lebensgeschichte - er erzählte uns furchtbar gern von seinen frühen Jahren - scheint mir exemplarisch zu sein für die Abkehr von der Dunkelheit des vorangegangenen Jahrhunderts und die Hinwendung zum strahlenden Licht des zwanzigsten. Vater hatte keine leichte Kindheit gehabt. Mein Grossvater Josef muss ein aussergewöhnlicher Mann gewesen sein. Er stammte aus Wirsitz in der Provinz Posen, wo er eine Schneiderlehre absolviert hatte, bevor er sich zu Fuss oder mit dem Pferdewagen, wenn einer anhielt und ihn mitnahm, nach Berlin aufmachte, um dort als Schneidergeselle zu arbeiten. Von Berlin zog er zunächst weiter nach Paris und einige Jahre später nach London, wo die besten Herrenschneider sassen, bei denen man damals lernen konnte. Dort wurde er Kompagnon eines anderen jüdischen Schneiders, der dann nach New York auswanderte und ihn aufforderte, ihm zu folgen. Als mein Grossvater dort auf einem Segelschiff ankam, erfuhr er, dass sein Partner nach Rio de Janeiro weitergereist war und ihn nun dort treffen wollte. Wieder schiffte er sich ein. Als sein Schoner im Golf von Mexiko in eine wochenlange Flaute geriet, wäre er vor Hunger und Durst fast gestorben, schliesslich gelang es ihm aber, Rio zu erreichen. Die beiden gaben die Schneiderei bald auf und fingen an, mit Edelsteinen zu handeln, die sie auf langen Reisen durch den Dschungel mit Maultieren zu den Haziendas beförderten. Mein Grossvater machte ein kleines Vermögen und beschloss, in seine deutsche Heimat zurückzukehren. Er war auf dem Weg durch die dunklen engen Gassen, die zum Hafen hinunterführten, als er von Räubern überfallen wurde, die ihm den grössten Teil seiner Habe abnahmen. Danach musste er weitere fünf Jahre durchs Land ziehen und Edelsteine verkaufen, bis er sich wieder saniert hatte. Diesmal gelangte er ohne Zwischenfall nach Europa. In Den Haag heiratete er Cato van Meerloo und liess sich mit ihr in Berlin nieder, ein Mann mit bescheidenen Mitteln, die im wesentlichen aus den Einnahmen eines in Rio zurückgelassenen Juwelierladens stammten. Mein Grossvater starb Jahre vor meiner Geburt, aber ich habe sein brasilianisches Tagebuch gelesen und eine Reihe von Porträts gesehen, die mein Vater von ihm gemalt hat, speziell eines im Stil eines Meisters der Holbein-Schule mit dem Titel "Anno Aetatis Suae ..." Es zeigt das Gesicht eines Juden, der hart gearbeitet hat, eines Selfmademans, der aber selbst in seinen jungen Jahren, als er sich noch nach oben kämpfte, eine natürliche Würde besessen haben muss. Seine hellblauen Augen waren das jüdischste an seinem Gesicht. Sie hatten Leid gesehen und erfahren, sie drückten Verständnis und Mitgefühl aus, sie hatten alles überwunden. Meine Grossmutter ist sogar noch früher gestorben. Auch sie nimmt für mich nur durch die Geschichten meines Vaters Gestalt an und in einem Bild, das er einige Tage nach ihrem Tod gemalt hat: Man sieht sie an einem Vorfrühlingstag an einem geöffneten Fenster im Sterben liegen. Der Hintergrund mit dem Rasen und den kahlen Bäumen ist dunkel, und davor zeichnet sich im Halbprofil das blass schimmernde Gesicht der Sterbenden ab. Ihre Augen sind unter den schweren, faltigen Lidern fast geschlossen ihr Profil ist rein und klar. Der alte José Posener war ein gütiger, liebevoller, strenger Vater, der mit seinen eigensinnigen, begabten, aber mit ihren überspannten Erwartungen ans Leben überforderten Kindern sicherlich seine liebe Not hatte. Das Phänomen ist möglicherweise typisch für eine jüdische Familie jener Zeit. Der alte Herr hatte die Grundlage gelegt, seine Kinder auf die höhere Schule geschickt, doch er selbst war kein gebildeter Mann. Die Kinder, die ihr Leben auf so viel höherem Niveau begannen, waren ehrgeizig. Julio, der jüngere Bruder meines Vaters, spielte virtuos, doch vollkommen gefühllos Klavier und konnte auch ziemlich gut zeichnen, musste aber nach Brasilien gehen, um sich um das Juwelengeschäft zu kümmern. Louis, der Lieblingsbruder meines Vaters, starb als junger Mann an Tuberkulose. Der jüngste Sohn George versuchte sich im Malen und in der Bildhauerei und beschloss dann, Schauspieler zu werden, wobei er sich als einmalig erfolglos erwies. Niedergeschlagen und eifersüchtig auf das einzig wahre Talent in der Familie, meinen Vater Moritz, musste er sich schliesslich mit dem drögen Beruf eines Zahnarztes begnügen. Mathilde, das einzige Mädchen unter den Geschwistern, heiratete zu früh die Ehe wurde wieder geschieden. Und als mein Vater am Ende auch noch reich einheiratete, bekam der Groll, den seine Brüder gegen den einen hegten, der es im Leben zu etwas gebracht hatte, neue Nahrung. 2004, Hardcover/gebunden, wie neu, ca. 22 x 14,5 cm, 800g, 493 Seiten, Internationaler Versand, Banküberweisung.
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